piwik no script img

Was kann Tschernobyl ersetzen?

Der letzte Reaktor des Unglücks-AKW soll engültig vom Netz. Kommen dafür neue AKWs oder andere Kraftwerke? Oder läuft der Uralt-Typ doch weiter?

von MAIKE RADEMAKER

Der nächste Winter wird bitterkalt werden für viele Einwohner der Ukraine: Der letzte Reaktor des Atomkraftwerks Tschernobyl wird dann keinen Strom mehr produzieren. Am 15. Dezember soll er abgeschaltet werden, hat Präsidenten Leonid Kutschma vorgestern im Beisein eines prominenten Gastes, des US-Präsidenten Clinton, angekündigt. Nach Kutschmas Angaben lieferte er sieben Prozent der gesamten Energiemenge für die Ukraine. Und schon im letzten Jahr drohten erhebliche Versorgungsengpässe.

In der Ukraine wurde Kutschmas Ankündigung zunächst wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Umso größer das Echo im westlichen Ausland: Der EU-Kommissionspräsident Romano Prodi hat die Entscheidung „als Durchbruch“ gelobt. Auch die Umweltschutzorganisation Greenpeace begrüßt die Ankündigung im Prinzip. Weil der Reaktor aber noch über sechs Monate weiterliefe, erhöhe sich das Risiko eines weiteren atomaren Unglücks enorm, sagte Atomexperte Tobias Münchmeyer von Greenpeace International (siehe unten). Weiterhin ungeklärt ist, ob nun als Ersatz für Tschernobyl die Ukraine vom Westen Hilfe für die Fertigstellung der beiden Atomreaktoren Khmelnitzky 2 und Rivne 4 (K2/R4) erhält.

Mit der endgültigen Abschaltung des dritten Tschernobyl-Reaktors würde die Ukraine ihren Teil eines 1995 getroffenen Abkommens mit den G-7-Staaten erfüllen. Darin hatten die Regierungen der führenden Industriestaaten zugesagt, für eine Abschaltung von Tschernobyl Ersatzkapazitäten in der Energieversorgung mitzufinanzieren.

EU-Außenkommissar Chris Patten erklärte gestern, im Gegenzug für die Ankündigung sollten der Ukraine zugesagte Kredite in Höhe von 1,5 Millarden Dollar vorzeitig verfügbar gemacht werden. Sollte die Ukraine ihren Energiesektor reformieren, sei eine Ausweitung der Darlehen möglich.

Doch ob Kutschma den Tschernobyl-Reaktor tatsächlich abschaltet, bleibt noch die Frage. Immerhin hat er dies schon mehrfach öffentlich angekündigt, dabei aber immer darauf bestanden, das dafür die Ersatzreaktoren K2/R4 finanziert werden müssen. Dies weigert sich die EU bisher, ihm zuzugestehen. Auch gestern sagte ein Sprecher des Außenministeriums der taz, Deutschland setze sich weiterhin dafür ein, dass als Ersatz für Tschernobyl ein alternatives Energiekonzept umgesetzt werde und nicht neue Atomreaktoren gebaut würden und ans Netz gingen. „Immer noch steht auch eine Studie der Osteuropabank über die Finanzierbarkeit und die Wirtschaftlichkeit von K2/R4 aus,“ hieß es. Deutschland, Schweden und Österreich hatten entsprechend auf einem EU-Außenministertreffen Ende Mai dieses Jahres darauf bestanden, der Ukraine nur „die Finanzierung von Ersatzkapazitäten“ anzubieten, der von den anderen Ministern gewünschte Zusatz „nukleare Ersatzkapazitäten“ wurde gestrichen.

Der altersschwache Tschernobyl-Reaktor 4 läuft jetzt schon öfter nicht mehr: Allein 1999 waren 18 Reparaturen notwendig. „Das Kraftwerk ist einfach am Ende“, sagt Münchmeyer.

Einfach bloß so abschalten kann Kutschma den Reaktor auch nicht: Mit der Stilllegung des AKWs ist eine kostenintensive Sicherung verbunden. Nach der Katastrophe am 26. April 1986 wurde der vierte Reaktor mit einem Sarkophag aus 250.000 Tonnen Beton umschlossen. Dieser Sarkophag ist mittlerweile einsturzgefährdet. Die Gefahr einer erneuten, weit reichenden Verstrahlung besteht. Am 5/6. Juli soll in Berlin auf einer Geberkonferenz von 40 Staats- und Regierungschefs die Finanzierung eines neuen Betonmantels festgelegt werden. Benötigt werden dafür über 700 Millionen US-Dollar.

Kurzfristig bleibt auch die Sorge der Ukrainer vor dem nächsten Winter. Schon letztes Jahr reichten einheimische Kohle, Gasimporte aus Russland und AKW-Strom kaum aus für die Heizungen. Das Versorgungssystem stammt noch aus Sowjetzeiten, ist völlig marode und verschleudert ein Drittel der gelieferten Energie. Energiesparprogramme sind unbekannt – und so schnell ist kein neues Kraftwerk gebaut. Das Land ist völlig überschuldet. Stromrechnungen wurden im letzten Winter gar nicht oder in Naturalabgaben bezahlt, weil Löhne nicht gezahlt wurden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen