: Die schwarzen Seiten zulassen
Am Wochenende trifft sich in Leipzig die Szene der schwarz Gewandeten, der Gothics. Der Tod durchzieht als roter Leid-Faden die ganze Kultur der Grufties. Keine andere Jugendszene gibt sich gleichzeitig so offen erotisch und sexuell aufgeladen
von KLAUS FARIN
An der Wiege der Gothics stand der Punk – beziehungsweise dessen Niedergang und Vereinnahmung. Viele hörten damals einfach auf, Punk zu sein, schlossen ihren Frieden mit der Welt und gründeten Familien. Manche sprangen selbst auf die Kommerz-Lokomotive. Andere, die ohnehin lieber stundenlang über den Sinn des Lebens meditierten, die wenig Interesse an der Politik hatten und ein edleres Outfit dem Straßen-Schmuddel-Look vorzogen, die insgesamt Introvertierteren aus der Punk-Szene wurden: Grufties.
Hatten die Punks misstrauisch beobachtet, wie immer mehr Jugendliche aus den mittleren und oberen Schichten der Gesellschaft in ihre Szene einzogen, so rekrutierten sich die Grufties eher aus kulturell gebildeten und materiell gesicherten Familien. Gymnasiastenkinder, die im Punk die Möglichkeit sahen, dem stinklangweiligen Alltag und der Gleichgültigkeit ihrer Eltern zu entfliehen, aber bald merkten, dass sie der Extrovertiertheit der Punks nicht klarkamen. So bauten sie sich ihre eigene Szene auf. Mit Bands, die auch die schwarzen Seiten in einem selbst anklingen ließen und bei denen es sich lohnte, ins Textheft zu sehen: Siouxsie & the Banshees, The Cure, Christian Death, Depeche Mode, Bauhaus, Joy Division, Sisters Of Mercy ...
Die Literatur
Hatten sich die Punks vom etablierten Kulturbetrieb radikal abgenabelt, so standen die bildungsbürgerlich aufgeschlossenen Grufties zu keiner Zeit in Fundamentalopposition zur Mehrheitskultur. Ihr Rebellion war keine sozial begründete, ihre Provokation keine politische, sondern ein ästhetische. So suchten und entdeckten sie auch weiterhin in der etablierten Kultur Parallelen oder gar Vorfahren (zu) ihrer eigenen Kultur. Dabei spielte die Literatur eine besondere Rolle, bot sie doch nicht nur die Möglichkeit des Rückzugs vom Alltagslärm der Gesellschaft, sondern auch Anlässe für die Beschäftigung mit grundlegenden Fragen des menschlichen Seins. AutorInnen wie Hermann Hesse („Siddharta“), Friedrich Nietzsche („Also sprach Zarathustra“), H.P. Lovecraft, der misanthropische Schöpfer düsterer Horrorgeschichten, Fjodor Dostojewski und Nikolai Gogol, die gemütsschweren Russen, die in ihren Werken immer wieder das menschliche Seelen- und Triebleben untersuchten, Charles Baudelaire („Die Blumen des Bösen“), Mary Shelley („Frankenstein“), Bram Stoker ( „Dracula“), Sheridan le Fanu („Carmilla“) und andere Schöpfer von Gothic Novels und Vampirgestalten bevölkern seitdem die Bücherregale von Grufties.
Neben Romanen und Lyrik – Grufties produzieren erstaunlich viel Lyrik - sticht auch Sachliteratur hervor, die immer wieder um zentrale Themen kreist: Der Tod und mögliche Welten und Reinkarnationen danach, mittelalterliche Geschichte(n), nordische Mythen, Märchen und Sagen, esoterische Werke, (neo)satanistische Werke (Aleister Crowley, Anton La Vey).
Der Tod
Der Tod durchzieht als roter Leid-Faden die gesamte Gothic-Kultur. Gothics lieben diese endlosen Gespräche über das Ende. Dahinter steckt nicht nur die Faszination für alles Extreme, sondern auch das Ziel, den Tod wieder wie zu vorchristlichen Zeiten zu entdämonisieren, als unweigerlich eintretenden Alltagsfall zu akzeptieren. Die Beschäftigung damit entwickelt sich nicht aus eigener Todessehnsucht, sondern führt zur Todesakzeptanz. Das ist ein Unterschied.
Im Widerspruch zur düsteren Ästhetik steht die offensichtliche Lebensfreude der Gothics: Keine andere Szene inszeniert sich und ihre Körper mit so viel Ausdauer, Freude und Lust. Keine andere Kultur präsentiert sich so offen erotisch und sexuell aufgeladen wie die Gothics. Tragen Normalbürger ihre Beate-Uhse-Kostüme allenfalls hinter heruntergelassenen Jalousien, so ist es für viele Gothics „normal“, zum Konzert oder in der Disco mit eher ent- als verhüllendem Lack & Leder am Körper aufzutauchen. Seitdem Bands wie Umbra et Imago oder Die Form ihre Zugehörigkeit zur S/M-Szene offen auf die Bühnen trugen, avancierte Fetischmode zur gängigen Streetwear der Gothics.
Sex & Tod, schwarz & weiß – diese vordergründigen Widersprüche sind stilprägend für die Gothics. „Schönheit“ schließt für Gothics das Hässliche mit ein, bedingt es geradezu. Kein Leben ohne Tod, kein Licht ohne Dunkelheit, keine Freude ohne Trauer. Gothic zu sein bedeutet für die meisten nicht, ständig unter Depressionen zu leiden, sondern die schwarzen Seiten des Lebens zuzulassen. Die alte Regel – willst du etwas über die Mehrheit einer Gesellschaft erfahren, dann sieh dir ihre Minderheiten an – gilt auch für die Gothics: Die geradezu magische Anziehungskraft, die extreme Themen, Gefühle und Lebensstile auf die Gothics ausüben, nährt sich aus den Tabus und Verdrängungen der Mehrheitsgesellschaft.
Mixturen
Die S/M-Szene ist nicht die einzige, die sich in den 90er-Jahren mit den Gothics paarte. Wo immer Überschneidungen zu anderen Kulturen bestanden, die Gothics erwiesen sich stets als offen und ließen sich befruchten – es sei denn, es käme dadurch Gewalt ins Spiel. Keine andere Jugendkultur ist derart gewaltabstinent wie die Gothics. Wohl auch deshalb fällt es Neonazis trotz eifriger Bemühungen so schwer, in dieser Szene Fuß zu fallen, wohl auch deshalb ist der Anteil weiblicher Wesen unter den „Schwarzen“ deutlich höher als bei allen anderen Jugendkulturen. Und so wuchs die Szene kräftig an. Die Gothic-Szene ist so auch auf dem Weg in die Normalität. Ein Business wie Punk, HipHop, Techno, Skateboarding und viele andere auch. Eine Kultur, die einst antrat, um dem schönen Schein der Vergnügungssüchtigen die dunkle Seite ihrer Existenz vor Augen zu führen, wurde selbst zum Teil der Vergnügungsbranche und zieht sich damit automatisch ihre eigene Opposition heran. Diejenigen, für die das „Schwarzsein“ keine Mode, sondern ihr Weg des Lebens ist. Und die deshalb beginnen, sich neue Nischen zu suchen. Jenseits der „Gothics Parades“ in Leipzig.
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