: Auf Tauchstation unter den Kellern von Paris
Wo sich Jean-Paul Marat vor seinen Häschern versteckte: Eine Kulturgeschichte über Tunnel und Katakomben. Eine intensive Recherche ganz unten
In jeder Großstadt existiert eine Subkultur. Doch Paris verfügt über eine ganz besondere Unterwelt. Angeblich ist der Boden der französischen Hauptstadt löchrig wie ein Schweizer Käse, unterminiert von Tunneln und Katakomben.
Der deutsche Journalist Günter Liehr, der vor zwei Jahren das Buch „Unter den Dächern von Paris“ veröffentlichte, ging wiederholt auf Tauchstation und der Frage nach: Was versteckt sich da unten? „Vage weiß man, dass im Gedärm des großen Stadttieres, unter dem Asphalt, jenseits der präsentablen und gut beleuchteten Zonen allerlei Funktiona- les stattfindet, womit der All- tag nicht behelligt werden soll.“
Statt Samstagabend durch Pariser Klubs zu ziehen, zieht es Liehr zu den „Kataphilen“, den Höhlenliebhabern. Mit ihrer pfadfinderischen Hilfe steigt er hinab in das Gegen-Paris, in ein Stollensystem von fast 300 Kilometer Länge. Die verbotene Stadt befindet sich in bis zu 35 Meter Tiefe, verteilt auf ein Areal von 770 Hektar. Dabei handelt es sich um räumliche Relikte aus der Zeit der großen Steinbrüche. Diesen unterirdischen Kalksteinbrüchen wurde über Jahrhunderte das Material entnommen, aus dem Paris erbaut wurde.
In Paris scheint die Erdkruste porös zu sein. Wir erfahren von häufigen Einstürzen ganzer Häuser und Straßenabschnitte, bis die Hohlräume durch die 1776 begründete Inspektionsbehörde kartiert wurden, und von den Arbeitern, Totengräbern, Schmugglern, Champignonzüchtern, Revolutionären, Widerständlern, Kloaketouristen, Abenteuerlustigen und Stadtspeläogen. Selbst Jean-Paul Marat fand hier vor seinen Häschern Unterschlupf.
Ergebnis der intensiven Recherchen unter dem Pariser Pflaster und in den Bibliotheken ist kein weiterer „Special-Interest-Reiseführer“, sondern eine Kulturgeschichte des Untergrunds. Der Autor untergliedert sein Werk in einzelne Kapitel: von den Anfängen der Steinbrüche, den Gipskathedralen von Montmartre und Belleville und deren neuer Nutzung als Katakomben, einer Knochendeponie für über sechs Millionen Leichen, denn im 18. Jahrhundert war auf den städtischen Friedhöfen kein Platz mehr frei. Dann das Kapitel „Cloaca Maxima“, über den Kanalisationsbau im Zweiten Kaiserreich, der „Haussmannisierung“ des Untergrunds. Wir hören von einem langem Netz von Druckluftleitungen für Rohrpostbriefe und dem jahrzehntelangem Streit um den Bau der Metro. Auch die Deutschen hatten sich während der Besatzungszeit ab 1940 in der Tiefe verbarrikadiert: Sie bauten die Anlagen unter der Avenue Kléber zur Bunkeranlage aus; nicht weit davon entfernt arbeitete die Résistance in einem anderen Teil des Untergrunds.
Zum Gelingen des Buchs trägt auch die Bebilderung bei: viele historische Stiche, alte Karten und Fotos vom berühmten Nadar, der als erster mit Kunstlicht die Unterwelt im Bild festhielt. Hinzu kommen vier Farbstrecken des Fotografen Olivier Fay.
TILL BARTELS
Günter Liehr und Olivier Fay: „Der Untergrund von Paris. Ort der Schmuggler, Revolutionäre, Kataphilen“. 190 Seiten mit vielen Abbildungen, Links Verlag, Berlin, 68 DM
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