: Politiker und Verdrossene
■ Bremer SchülerInnen testeten ihr Parlament und ihre Politiker / Bis Herbst müssen die Volksvertreter Initiative zeigen und Schüleranträge contra Politikverdrossenheit umsetzen
Parlamentsluft schnuppern: Ausschüsse, Anträge, Bürgerschaftsrhetorik. Einen halben Tag: Politikeralltag – bevor die 100 Probeparlamenta-rier heute in die großen Ferien entfliehen.
Bis zu sechs Monaten Vorbereitung haben die Schüler nun hinter sich: Schülerforum nennt sich die Großveranstaltung des Nord-Süd-Forums, das nun zum fünften Mal Interesse für lokale Politik in die Pennälerköpfe bringen will.
Jetzt läutet die Glocke für die Parlamentssitzung – und keiner will zuerst das Landesparlament stürmen. Erst ganz langsam ziehen Cola-Flaschen, Kaugummis in den Plenarsaal. Beziehen die 100 Plätze der Abgeordneten. Während sich das gute Dutzend echter Parlamentarier gegenüber auf die Stühle der Senatoren und Staatsräte verzogen hat. Und sich die sonst leere Tribüne mit Schulklassen füllt.
Die ersten Sitzungsstunden haben die Probepolitiker in Ausschüssen zugebracht und über Anträge sowie Formulierungen mit den echten Politikern gestritten. „Den Politikern Auge in Auge gegenüberzusitzen war schon spannend“, meint Vanessa. Die Chance zu sagen, was das Schülerherz begehrt.
Nun thront Bürgerschaftspräsident Christian Weber (SPD) auf dem Vorsitz und läutet die Debatte ein. Procedere: Fünf Minuten für jeden Antrag, zehn Minuten Diskussion, eine Minute für die Abstimmung. „Ich bitte Sie, Ihr Zeitbudget diszipliniert einzuhalten“, droht Weber. Wo sich schon der Beginn rauszögerte. Und wo eine ganz Reihe von Anträgen anstehen. Um ein Uhr ist Mittag, Parlamentsschluss und beinahe Sommerferien.
Erster Antrag: „Hi! Ich bin Sabrina.“ Mit so viel Verve fangen Berufspolitiker selten an. Schon gar nicht wenn es um Flucht, Folter und Asyl geht. Im Wortlaut folgt Sabrinas Text schon wieder ganz der geschliffenen Antrags-Rhetorik: „Die Bremische Bürgerschaft und der Bremer Senat mögen darauf hinwirken, dass die unbarmherzige Asylpolitik in Deutschland und Bremen überdacht und menschlicher gestaltet wird“, fordert sie.
Bremens SchülerInnen geht es um Weltthemen: Menschenrechte, Kinderarbeit, Gentechnik, regenerative Energien. Nichts allzu Bremisches. Ganz bewusst – das Nord-Süd-Forum will solche Themen an die next-Generation bringen. Die wiederum die Politiker anstoßen: Zeichen in Bremen zu setzen.
Erste Diskussion: Keiner will so recht ans Mikro. „Nicht so zögerlich“, ruft Präsident Weber: „Haben Sie Mut, haben Sie Courage.“ Ganz langsam kommt eine Debatte in Gang. Wie ist das mit den Kurden und sicheren Drittländern? Die Schüler haken nach, wenn die Vollblut-Politiker der drei Fraktionen Stellung beziehen.
Die erste Abstimmung im Schülerparlament: Zwei Gegenstimmen, ein paar Enthaltung. Sabrinas Antrag wird angenommen. Die nächsten auch. Die Schülerstimmen fallen fast immer einstimmig – ganz im Gegensatz zu den üblichen 89:11 Abstimmungen der Bürgerschaft. „Ich fand das sehr erfrischend, wie die Schüler über ihre Parteigrenzen hinweg über Sachfragen diskutiert haben“, erklärte Politiklehrer Dieter Mazur.
Jetzt wird die Sache ernst: Bis Spät-Herbst sollen die Anträge die echten Bremer Parteien noch auf Trab halten. In einer „Follow-Up-Sitzung“ sollen die Politiker erklären, was sie in der Zwischenzeit mit den Schüler-Anträgen gemacht haben, welche Initiativen gestartet wurden. Einfach nur Schülerforum und am nächsten Tag alles wieder vergessen, gilt nicht.
Das Rollenspiel kam bei den meisten prima an. Von Politikdistanz und Misstrauen nicht mehr viel zu spüren. „Jetzt kommt es auf das Ergebnis im Herbst an“, meint Vanessa: „Wenn bis dahin nicht viel passiert, ist der Tiefpunkt schnell wieder erreicht.“ pipe
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen