: Wahrheitsfindungsprobleme
Besuch bei einer Koryphäe der Gerichtsmedizin
von GABRIELE GOETTLE
Otto PROKOP, em. Univ. Prov., Dr. med., Dr. h. c. mult., eh. Dir. d. Inst. f. gerichtl. Med. d. Humb. Uni. Berl., Dr. med. 48, Habil. 53 i. Bonn. Erh. zahlr. Ausz., u. a. d. Nationalpr. d. DDR II. Kl. 61, Oehlecker-Medaille d. dtsch. Ges. f. Bluttransf. BRD 68, Vaterl. Verdienstorden i. Gold 75, Ehrenkreuz f. Wiss. u. Kunst I. Kl. d. Rep. Österr. 79, Nationalpreis d. DDR I. Kl.81, Stern d. Völkerfreundschaft i. Gold DDR 86, Stern d. aufgehenden Sonne m. gold. Strahlen jap. Nationalpreis 89, Gedenkmedaille d. Landes Niederösterr. 98, Mitgl. d. Akad. d. Wiss. Berlin seit 64, u. d. Akad. d. Naturforscher Leopoldina 67. Ehrenmitgl. i. zahlr. Ges., u. a. Dtsch. Kriminol. Ges. BRD 67, Royal Soc. of Medicin London 73, Japan. Ges. f. Gerichtl. Med. 81, Österr. Ges. f. Transf., Transplant. u. Genetik 86, Ges. f. Gerichtl. Med. Cuba 86, Kurator d. Kais.-Friedr.-Stift. Berl. 94. Otto Prokop wurde am 29. 9. 1921 in St. Pölten, NdÖsterr. geb., verh., 2 Kinder
Herr Professor Prokop war derart unauffindbar, dass ich dachte, er sei bereits tot. Es gab keinen Eintrag im Telefonbuch, niemand kannte seine letzte Adresse. Durch einen Zufall fand ich ihn dann doch, stieß aber auf barsche Ablehnung. Er machte mir unmissverständlich klar, dass er unauffindbar sein und bleiben möchte, ganz besonders für die Vertreter der Medien. Am Ende des Gespräches sagte er: „Gut, dann kommen Sie eben . . . Montag 8.30 Uhr!“, und nannte mir die Adresse.
In der Nacht davor studiere ich seinen berühmten, fast 800-seitigen Atlas der gerichtlichen Medizin. Das hätte ich nicht tun sollen. Hinter dem Motto Nihil novi sub sole folgt eine wohl geordnete, nach Todesarten gegliederte Sammlung von Fotografien, Bildlegenden und Kurzprotokollen. Auf den Fotos sieht man Opfer von Gewaltverbrechen, Verunglückte und Selbstmörder. Gezeigt werden Leichen in allen Verwesungsgraden, nackte Körper von Männer, Frauen und Kindern, mit allen nur erdenklichen Wunden und Verstümmelungen, verursacht durch Stiche, Beilhiebe, Schnitte, Schüsse, Verbrennungen, Explosionen, durch Erwürgen, Überfahrenwerden und Erhängen. Morde und Lustmorde sind zu sehen und Selbstmorde, die mit einer ungeheuer zielstrebigen Sorgfalt und Unerbittlichkeit durchgeführt wurden. Viele der Fotografien zeigen die Toten am Fundort, hingesunken inmitten von Wohnraum oder Küche, umgeben von den einstmals erstrebten und vertrauten Einrichtungsgegenständen und Utensilien. Meist sind die Dinge, an denen das Herz hing, bescheiden und kümmerlich, ebenso wie die sozialen Verhältnisse, denen der Großteil aller Toten angehörte. Merkwürdigerweise haben die Gesichter – auch die der Ermordeten – oft einen friedlichen, sogar zufriedenen Ausdruck. Doch beim Betrachten kann man sich nicht beruhigen in melancholischem Memento mori.
Das Institut für gerichtliche Medizin der Charité befindet sich in einem gelben dreistöckigen Backsteingebäude und liegt in Berlin-Mitte. Es ist ein Zentrum für die Grundlagenforschung und angewandte Forschung der forensischen Medizin. Vor hundert Jahren wurde es als Berliner Leichenschauhaus eröffnet. Pünktlich betreten wir durch die offene Tür das Treppenhaus und gelangen in einen Flur. An der Wand hängen zu Demonstrationszwecken menschliche Oberschenkelknochen, der Länge nach halbiert und schneeweiß. Darunter steht eine leere Bahre mit beflecktem Laken. Im angrenzenden kleinen Nebenraum, der lichtdurchflutet ist, liegt ein nackter toter junger Mann mit einer großen Flügelkanüle in der linken Leistenbeuge auf dem Seziertisch bereit. Es ist jedoch niemand zu sehen oder zu hören. Als wir gerade wieder gehen wollen, erscheint eine Frau in Kittel und Gummihandschuhen. Entsetzt über unsere Anwesenheit, bringt sie uns höchstpersönlich ins richtige Gebäude. Bis ins Vorzimmer von Professor Prokop, wo uns eine der Sekretärinnen hineinführt zu ihm.
Herr Prokop sitzt hinter einem großen Schreibtisch und tippt. „Bitte, nur eine Sekunde noch, nehmen Sie Platz“, ruft er. Die Zimmerjalousien sind halb heruntergelassen, aus dem Radio erklingt Werbung und Musik. Im halbdunklen geräumigen Arbeitszimmer herrscht merkwürdige Unordnung, Stapel von Büchern und Papieren bedecken den Boden, die hohen Wandregale sind zur Hälfte leer. Seitlich steht eine große Leiter. Der Tisch vor uns ist übersät mit Papieren, geöffneter Post, Stiften und Zeitungen. Neben einer grünen Glasschale liegen ein paar schöne exotische Muscheln und eine schwere Pistole. Zur Linken des Tisches steht ein wuchtiger alter Stahltresor. Er ist hell gestrichen und trägt auf dem Riegel die Aufschrift Uran. An der Wand hinter dem Schreibtisch hängen mehrere eher kleine Ölgemälde, ebenso an der Wand über der Sitzecke, Blumen- und Landschaftmotive, offenbar allesamt von ein und derselben Hand. Flankiert werden sie von zwei Urkunden, einer sehr großen, mit blutrotem Siegel und einer kleinen in japanischer Schrift. Herr Professor Prokop erhebt sich nun eilig, begrüßt uns distanziert und nimmt elegant im Sessel Platz. Er trägt einen frisch gestärkten weißen Kittel, weißes Hemd mit Fliege, schwarze Hose und schwarze Schuhe. Sein Schädel ist in einem weißen Haarkranz umrahmt. Das Gesicht, so gut wie faltenlos, wird von einer Brille mit großen Gläsern beherrscht, durch die er uns mit misstrauischen Blicken mustert. Gefragt nach dem Grund dafür, greift er nach einem Stapelchen von Papieren, blättert es durch und sagt in relativ weichem Österreichisch: „Ich habe Angst vor den Medien, ich habe richtig Angst, es hat ja bereits Vorfälle gegeben . . . nach der Wende schrieben westdeutsche Zeitungen, dass wir von Toten – nein, von LEBENDEN – die Organe herausgerissen haben, um sie für Funktionäre sicherzustellen oder gegen Devisen zu verkaufen, vom Charité-Skandal war die Rede. Viele Zeitungen haben das übernommen, viele . . . Eine Senatskommission wurde eingesetzt zur Untersuchung – drei Professoren aus Westberlin und ich. Und das Ergebnis der Kommissionsarbeit? Alle Anschuldigungen erwiesen sich als unwahr! Kein einziges Organ war verkauft oder missbräuchlich verwendet worden, viele Organe waren nach Leiden in Holland weitergegeben worden, kostenlos! In der DDR gab es ein hervorragendes Gesetz zur Transplantation, es wird in ganz ähnlicher Form auch in Österreich angewandt!“
Er reicht uns aus seinem Stapelchen zwei Kopien zum Thema, sagt: „Das können Sie behalten“, blättert weiter und fährt fort: „Ich musste mir einiges anhören . . . Vorwurf, ich habe mich schuldig gemacht, durch Staatsnähe, habe durch gute wissenschaftliche Arbeit das Prestige der DDR erhöht . . . Alles Unsinn! 1.000 Mark zahle ich Ihnen, wenn Sie mir einen einzigen politischen Text von mir nachweisen. Ich bin unpolitisch. War ja nie in einer Partei, glücklicherweise. Aber da gibt es Neid, Missgunst, Hass auch. Und angeblich wurde was verschwiegen . . .“ Dramatisch flüsternd wiederholt er: „Ich habe Angst, richtige Angst!“, blättert weiter in seinem Stapelchen und fährt fort: „In der Hitlerjugend, da war ich Führer. Und ich gehöre auch nicht zu denen, die die Wehrmacht herabsetzen!“ So etwas wie Trotz und auch Stolz klingen leise mit. Er blättert, zeigt ein Foto von sich in Wehrmachtsuniform, murmelt: „Da war ich Feldwebel“, reicht mehrere Kopien und Zeitungstexte heraus, die seine Arbeit und Person während der DDR-Zeit betreffen, auch eine Liste aller Auszeichnungen und Ehrungen. „Die Kriegsauszeichnungen fehlen“, sagt er mit hintergründigem Lächeln, „das können Sie alles behalten.“ In die Stille hinein klingelt das Telefon in alter Manier, mit Glocke. Herr Professor Prokop zögert einen Moment, winkt dann ab und bleibt sitzen, reicht uns aus dem Stapelchen eine Schreiben des Bundespräsidenten vom 26. September 1996, eine Gratulation zum 75. Geburtstag, sortiert es wieder ein, legt das Stapelchen in seinen Schoß und erzählt: „Mein Bruder Ludwig, er ist Prof. Dr. med., Dr. phil., Dr. rer. nat., erster Sportmediziner Österreichs – vielleicht Europas –, hat am 6. 8. jetzt Geburtstag – den 80sten – am Samstag fahre ich hin und bringe ihm das mit“, er deutet auf dieexotischen Muscheln, „er hat ja alles . . . Mein Bruder Henrich, Prof. Dr. med., war Psychiater, mit Lehrstuhl in Innsbruck, und ist jetzt, im Februar gestorben . . .“ Nach einer winzigen Pause deutet er auf die Wand: „Meine Mutter, Elfriede Bachmayr – sie ist vor zwei Jahren im hundertsten Lebensjahr gestorben – war Malerin und bekam das österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst, das sind alles Bilder hier von ihr.“ Auf die Frage nach einem kleinen Aquarell, es zeigt eine Wegkreuzung mit Holzkapelle und Entenschar, sagt er: „Gefällt es Ihnen? Sie können es haben. Bitte nehmen Sie es. Von der Familie sind alle bereits versorgt. Das hat mein Großvater mütterlicherseits gemalt. Er war Tierarzt, Obertierarzt, in Ybbs.“ Prokop blättert plötzlich heftig, sucht, murmelt etwas von einem Abschiedsbrief, findet ihn endlich erleichtert. Der Brief ist vom 19. Mai 1945 und wurde, leicht zittrig, in Sütterlinschrift verfasst. Herr Prokop liest einen Teil daraus vor: „. . . so müssen wir Alten gemeinsam die letzte Reise in ein unbekanntes Land antreten. Es ist ja nicht nur der fremde Feind im Lande, sondern auch der einheimische . . .“ Herr Prokop seufzt und sagt: „Sie haben es nicht mehr ausgehalten und haben sich mit Zyankali umgebracht, beide Großeltern. Und die waren nicht etwa Nazis oder was, die waren bloß deutsch gesinnt. Es gab ja seinerzeit Kundgebungen für Schuschnigg in Salzburg, da haben die Massen gejubelt für die Vaterländische Front. Kaum kam Hitler, waren immer schon alle gegen die Vaterländische Front gewesen. Nach dem Krieg waren alle plötzlich gegen den Nationalsozialismus gewesen, so wie nach der Wende angeblich alle antikommunistisch waren. Es wiederholt sich alles . . . Wir waren immer deutsch gesinnt, sind natürlich mit Alpenvereinsausweisen über die Berge geklettert vor 38, nach Reichenhall hinüber, da stand die Hitlerjugend schon bereit für uns – für die tapferen Österreicher – und jeder von uns bekam fünf Mark“, er lacht auf, „Begrüßungsgeld, ja, dann haben wir gesungen“, Herr Prokop singt mit unsicherer Stimme: „. . . daheim ist Not und Elend, das ist der Arbeit Lohn, Geduld, verratne Brüder, schon wankt des Kaisers Thron“, er lächelt etwas verlegen, „die Nazis haben später daraus gemacht: Schon wankt des Judas Thron . . . Nein, nein! Wir waren doch alle zufrieden und begeistert . . . aber Ende des Jahres 38, da ging’s schon los, dass gesagt wurde: So, jetzt haben wir euch befreit, jetzt müsst ihr endlich mal hochkommen, ihr Schlappschwänze, ihr Österreicher, ihr müsst ja erst mal arbeiten lernen . . .“
Das Telefon klingelt und wird ignoriert. Auf unseren Wunsch hin, nun etwas über seine Arbeit als Gerichtsmediziner sprechen zu wollen, legt er das Stapelchen auf den Tisch, wirkt ein wenig ernüchtert, fast unwillig, springt auf, sucht im Regal, zeigt kurz sein Lehrbuch der gerichtlichen Medizin und das der Menschlichen Blut- und Serumsgruppen, verfasst mit dem Kölner Freund Uhlrenbruck, Standardwerke, stellt sie sofort wieder weg, murmelt: „Ja, was soll ich Ihnen erzählen, das ist so viel . . . ich habe ja alles gemacht, so viel geschrieben, mein Gott . . . und anfangs, da hatte ich neben meinem Lehrstuhl in Berlin ja auch noch die kommissarische Vertretung der verwaisten Lehrstühle für gerichtliche Medizin in Halle und Leipzig, in Leipzig musste ich noch zusätzlich das Institut für gerichtliche Medizin und Kriminalstatistik übernehmen, und bis 63 auch noch die Leitung des Blutspendedienstes Berlin . . .“ Auf die Frage, wie er das alles bewältigt habe, sagt er ohne sichtbare Effekthascherei: „Mit dem Porsche!“ Während wir noch lachen, hat er schon wieder sein Stapelchen ergriffen, blättert, und reicht uns eine Gehaltsbescheinigung von damals, aus der seine Jahresverdienste an der Uni Leipzig hervorgehen. 1.000 Mark 1959, ebenso 1960, und 1962 waren es nur 666 Mark. Diejenigen, die ihre Lehrstühle verlassen haben, verdienten im Westen drüben weit besser und sind auch heute, im Alter, mit hohen Pensionen gesegnet, während Herr Prokop, auf Grund der Regelungen nach der Wende, zu all jenen gehört, die mit wesentlich geringeren Bezügen leben müssen. Aber davon spricht er mit keiner Silbe, ich entnehme es später einem Zeitungsbericht.
Auf die Frage, weshalb er überhaupt in die DDR gegangen und dort geblieben ist, reagiert er anfangs abweisend, antwortet dann aber doch: „Es gab 1956 natürlich eine große Diskussion darüber mit meinem Lehrer in Bonn, der war dafür, aber zur Sicherheit fragten wir den Professor Martini in Berlin – er war Leibarzt von Adenauer – und der hat gesagt: MENSCH Prokop, einmalige Gelegenheit, so ein junger Mensch und dann auch noch die Charité! So was kriegt man nur sehr selten angeboten. Also ging ich und habe es nicht bereut. Und später . . . da war ich gerade mit meinem Bruder am Wörthersee und wir hörten im Kofferradion, dass sie eine Grenze bauen. Aber das war nie eine Frage für mich, nie! Rückkehr war selbstverständlich, ich hatte hier meine Mitarbeiter – und das ist für mich Anstandssache, die nicht im Stich zu lassen. Sie haben mich umarmt sogar und gesagt: Er ist wieder da, er ist da!“ Herr Prokop spricht laut und wirkt ein wenig ergriffen, so dass unsere Bitte, etwas über seine Forschungen mit Weinbergschnecken zu erzählen, für die er sogar für den Nobelpreis vorgeschlagen war, einen Moment lang störend wirkt.
„Ach so, ja ja . . .“, seine Stimme klingt enttäuscht. Er blättert im Stapelchen, reicht uns einige Kopien zum Thema und sagt: „Zu mir kam Philipp Levine aus Amerika und erzählte, er hat in Australien so eine eigenartige Sache gefunden, bei Frauen mit Reihenfehlgeburten, sie hatten Antikörper besonderer Art in ihrem Serum. Wir sind hier dann der Sache nachgegangen, fanden aber bei vergleichbaren Fällen diese Antikörper nicht. Jetzt erkundigte ich mich, wo denn das in Australien ist und es stellte sich heraus, da ist so eine Seenplatte mit Sümpfen. Verdammt nochmal, dachte ich, könnte ja sein, dass vielleicht irgendwelche Würmer antigenes Material hineinbringen. Also suchten wir mal verschiedene Tiere hier bei uns, die möglicherweise beim Menschen antigenisch wirken, und da sind wir dann zum Schlachthof . . . Bandwürmer. Es war tatsächlich das Antigen drinnen. Verschiedene Egel haben es auch, wir sind herumgegangen, ja wo kriegen wir denn schöne Spulwürmer her? Und da kam ich auf die Idee, untersuchen wir doch auch mal Regenwürmer.“ Herr Prokop ist bereits ganz in seinem Element. Nun wird deutlich, weshalb seine Vorlesungen an der Charité legendär waren und stets überfüllt. „Wir fuhren also hinaus nach Köpenick, um Regenwürmer zu sammeln, das gesamte Institut. Die haben wir zermahlen und extrahiert und siehe da, die haben Blutgruppen und auch das gesuchte Antigen. Ein anderes Mal sah ich Schnecken über den Weg kriechen, Helix pomatia, Weinbergschnecken, und die etwas kleineren Gartenschnecken, Helix hortensis. Wir untersuchten sie und fanden heraus, dass sie ein sehr starkes Anti-A- haben, dass man mit ihnen Blutgruppen bestimmen kann, mit Schnecken!!
Schnecken extrahiert! Wieso kommt das? Wir haben sie seziert und fanden eine Drüse. Sie gehört zum Sexualapparat und gibt ein Sekret ab, dass die Eier einspeichelt. Die Schnecke gibt auf diese Weise ihrer Brut ein schützendes Sekret mit und darin nun befindet sich das Anti-A. Diesen wunderbaren Stoff nannte ich Protektin. Wir hatten Ausgangssubstanzen gesucht für die Antiserumgewinnung und haben einen Antikörper gefunden, der zuverlässig die verschiedenen menschlichen Blutgruppen A anzeigt – durch Agglutination (durch Verklebung und Zusammenballung. Anm. G G) – und zwar in 50.000-facher Verdünnung noch. Aus dieser Drüse wird nun ein Pulver gewonnen, es wird aufgelöst in physiologischer Kochsalzlösung und damit tritt augenblicklich Agglutination ein in Blut der Blutgruppen A und auch in blutgruppenhaltigen Sekreten der Blutgruppe A, im A-Sperma, in Tränen, es lässt sich auch im Speicheltest wunderbar nachweisen. Das ist kriminalistisch von ungeheurer Bedeutung, wenn man beispielsweise aus hunderten von Verdächtigen diejenigen heraussuchen muss, die im Speichel Blutgruppe A haben. Das Problem lösen wir mit diesem Extrakt innerhalb einer Stunde. Das war früher natürlich gänzlich unmöglich. Es ist heute so, dass mit diesem Extrakt auf der ganzen Welt gearbeitet wird. Die Schneckensubstanz können Sie kaufen, das Helix-Agglutinin, Anti-Ahel heißt das und da gibt’s zwei Sorten: Anti-AHP, Helix pomatia, und Anti-AHH, Helix hortensis.
Ich hab das damals in der Akademie der Wissenschaften, Klasse Medizin, vorgetragen, es war eine schöne Diskussion . . ., und da hat dann jedenfalls mein Freund Köhler zu Hause mit dem Protektin Streptokokken getestet, am nächsten Tag kam ein Telegramm: Streptokokken der Gruppe C werden sofort stark agglutiniert. Stärker, als jedes andere Serum das macht. Ich dachte dann, vielleicht kann man auch Tumorzellen . . . und siehe da, das kann doch nicht wahr sein, dass es auch Tumorzellen agglutiniert . . . Ah . . . Oh . . . danke!“
Kaffee wird gebracht. Er trinkt erfreut einen Schluck und fährt fort: „Wir haben viel geforscht damals, auch mit dem Ardenne zusammen, wir haben gesehen, die Tumorzellen werden davon nicht direkt angegriffen, aber verdammt noch mal, vielleicht kann man das Antigen als Transportvehikel für ein Zellgift benutzen, das auf diese Weise hineingeschleust werden kann . . . Aber es ist als Krebsmittel nicht anzuwenden. Wir hatten damals auch noch verschiedene Fischrogen untersucht – und mit einem bestimmten Rogen können Sie alle menschlichen Blutgruppen ab Gruppe 0 untersuchen. Das war das, was vielleicht am bekanntesten wurde“, er blättert im Stapelchen, „hier, sehen Sie, in Englisch, Milestones . . . und hier, ach, das ist mein Bruder an seinem 80sten Geburtstag. Hier ist es: ,Forscher wollen Frösche als Pharmafabriken nutzen‘, 5. 1. 99.
Sie fanden in Australien heraus, dass die Froschhaut von einem Sekret überzogen ist, das starke antibakterielle Wirkung hat, vielleicht sogar wirksam gegen Tumore . . . interressant . . . und nun lesen Sie dazu hier diesen Aufsatz von mir, da werden Sie sehen, dass wir bereits in den 60er-Jahren die Froschhaut untersucht haben auf protektive Mechanismen und Substanzen.“
Nun möchten wir aber doch auch etwas über den gerichtsmedizinischen Alltag wissen, über Fäulnis, Gerüche, schreckliche Sekrete, schmierige Substanzen, Ekelschwellen und Gewöhnung. Diese Frage wird ihm von Laien natürlich immer und sofort gestellt und er beantwortet sie ausweichend, erzählt, dass er ja bereits in Bonn als Hilfsassistent mit Obduktionen und Berichten Geld dazu verdient hat, denn er musste sein Geld immer selbst aufbringen im Studium, dass er im Bunker wohnte, sich dann aber von den Einnahmen sofort ein Motorrad gekauft hat, auf dem er dann sogar Erich Hoffmann, den berühmten Entdecker des Syphilliserregers, zum 80sten Geburtstag auf einen Berg hinaufgefahren hat. Wir erfahren, dass er ursprünglich die Wahl hatte ins Gebiet der Geschichte der Medizin zu gehen, wegen guter Lateinkenntnisse, auch heute noch halte er uns jederzeit einen Vortrag in Latein . . . und gGriechisch, aus dem Stegreif, wenn wir möchten. Und auch die zur Wahl stehende Dermatologenlaufbahn hat er nicht eingeschlagen, sondern sich damals für die Gerichtsmedizin entschieden und es nie bereut. Er war immer im Dienst, wenn nötig auch samstags und sonntags. Er trug stets nur Handschuhe und Gummischürze, kann sich nicht erinnern, je einen Mundschutz benutzt zu haben. Ekelreaktionen hatte er nicht. Von Anfang an nicht, er war ja Soldat. „Nein“, sagt er, „die Arbeit eines Chirurgen ist dramatischer!“ Auf die Frage, nach seinem berühmtesten Fall sagt er: „Es gab ja viele interessante Fälle natürlich, aber was am meisten Gespür erforderte, wo’s am kniffligsten war, das war sicherlich der Fall Hetzel, ist Ihnen der ein Begriff, nein?“
Er erhebt sich flink, ignoriert das klingelnde Telefon und sucht im Regal herum, überreicht uns dann ein gelbes Büchlein „Kriminalstatistik und forensische Wissenschaften“, in dem u. a. der Fall Hetzel dokumentiert ist. „Das ist mein einziges Exemplar. Also ich geb’s Ihnen mit, gegen den heilgen Eid . . .“
Er trinkt vom kalten Kaffee, ordnet das Stapelchen und beginnt: „Ja . . . da bin ich damals gegen sechs westdeutsche Professoren und ihre Sachverständigen angetreten . . . ach, das war was . . . es ist die Geschichte von dem Mann, der dann freikam aus dem Gefängnis, nach 14 Jahren, auf Grund meines Gutachtens! Er sollte angeblich die Frau mit einem rechtsgedrehten Strick ermordet haben. Da habe ich mir gedacht, wie bitte? Ein rechtsgedrehter Strick?“ Er holt ein gebügeltes Taschentuch aus der Hosentasche, faltet es auf, dreht es zusammen. „Sehen Sie, ich zeichne es hier aufs Papier“, er zeichnet zwischen zwei Striche ein Muster, „das ist der Hals, und das ist der Abdruck eines rechtsgedrillten Strickes . . . so, wenn ich jetzt ein Taschentuch einfärbe und hier aufdrücke, was glauben Sie, wie’s darunter aussieht? Der Abdruck ist genau umgekehrt! Und die Vertrocknungen am Hals sind dann natürlich auch in umgekehrter Richtung. Ich habe viel experimentiert mit Toten, müssen Sie wissen, ohne sie zu schädigen, auch zur Frage der Bindehautunterblutungen, die spielten ja im Prozess eine entscheidende Rolle. Es war ein katastrophales Fehlgutachten, das den Mann 14 Jahre hinter Gitter brachte. Ich haben einen zweistündigen Lichtbildvortrag gehalten im Gericht, den gibt es hier noch irgendwo . . . Das Mündliche können Sie nachlesen.“
Zum Fall Hetzel kam es am 1. 9. 1953, als die 25-jährige Anhalterin Magdalene Gierth und der Autofahrer Hans Hetzel aufeinandertrafen. Irgendwann wurde die Fahrt unterbrochen, es kam zum Geschlechtsverkehr, bei dem Magdalena G. plötzlich starb. Hans H., der vorbestraft war, geriet in Panik und warf die Leiche einen Abhang hinunter. Zwei Tage später fand man die Leiche, drei Tage nach dem Tod wurde die Leichenöffnung vorgenommen, von einem Amtsarzt und von einem Uni-Assistenten aus der Pathologie. Das Protokoll dieser Leichenschau und die Fotografien der Leiche dienten knapp eineinhalb Jahre später dem Gutachter Professor Ponsold ebenso als Vorlage, wie später Herr Professor Prokop. Professor Ponsold war Leiter des Institutes für gerichtliche Medizin an der Universität Münster und so etwas wie der Papst der Gerichtsmedizin in Westdeutschland. Sein Gutachten war sozusagen die wissenschaftliche Untermauerung des Urteilsspruches vom 17. 1. 1955 in Offenbrug: Lebenslängliches Zuchthaus für den Angeklagten Hetztel wegen Mordes an Magdalena Gierth.
Zudem wurden ihm anale Vergewaltigungen, schwere Misshandlung und Erdrosselung vorgeworfen. Im Laufe der Jahre wurden mehrere Anträge auf Wiederaufnahme des Verfahrens gestellt und abgelehnt. 1967 hat eine fünfköpfige Gutachterkommission das Erstgutachten bestätigt und durch einige neue Details sogar verschärft. Erst im November 1968 kam es zur Wiederaufnahme des Verfahrens, und das war der besonderen Fachkenntnis Professor Prokops zu verdanken. Das Gericht erkannte an, dass seine „Sachkunde auf Grund seiner Spezialuntersuchungen der des Sachverständigen Prof. Ponsold überlegen ist“.
Diese Spezialuntersuchungen betrafen Gewebsblutungen bei Leichen. Prof. Prokop wies nach, dass sie auch noch nach dem Tode eintreten können. Die Behauptung, dass „Blutungen im Gewebe vitale Reaktionen sind“ und somit die Verletzung vor Eintritt des Todes stattgefunden haben muss, überführte er als reinen Dogmatismus. Überhaupt ist es eine helle Freude zu verfolgen, wie er scharf, genauestens und logisch nachvollziehbar, mit diskreter Brillanz die fehlerhaften und folgenschweren Gutachten seiner Vorgänger in der Luft zerfetzt. Und was mir besonders auffiel, ist, dass er der Frau, im Gegensatz zu den anderen männlichen Gutachtern, auch da nachspürte, wo ihre Verletzungen nicht mit dem Mord- und Sexualdelikt zusammenzuhängen schienen. Die Frau hatte nämlich eine frische, unvollkommene Abtreibung hinter sich, Grund genug, so Prokop, an eine Luftembolie zu denken. Die Vorgänger hingegen schrieben: „Eine tödlich verlaufende Luftembolie durch Analverkehr ist den Unterzeichneten weder aus eigener Erfahrung noch aus der Literatur bekannt und auch nicht vorstellbar.“ Prokop widerlegt zugleich die gutachterliche Behauptung des Analverkehrs:
„Grotesk wirkt die Hypothese, dass die Kotleere des Enddarmees auf ein Hinaufschieben des Kotes durch die Stempelwirkung des Penis zustande gekommen sein könnte. Hier liegt eine grobe Unkenntnis des Physiologie und Anatomie vor. Der Kot sammelt sich beim Menschen im Sigma an [. . .] die Ampulle des Mastdarmes ist ständig leer. Der Kot dringt dann in die Ampulle ein, wenn Stuhldrang besteht.“
Er weist kardinale Fehlbeurteilungen nach, Schlamperei und Verbohrtheit und bemerkt: „Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse waren bereits zur Zeit der ersten Verhandlung (1955) in genügendem Maße vorhanden, um den Fall richtig einzuschätzen.“ Das Ergebnis seines gründlicheren Gutachtens ist ein Freispruch.
Mein Blick fällt zum wiederholten Male auf die Pistole. Bei meiner Frage erhebt er sich sofort, ergreift sie und betrachtet sie liebevoll: „Das ist eine ganz normale NULLACHT, Neun-Millimeter-Parabellum, ich brauchte sie, weil ich in den Vorlesungen immer gezeigt habe, wie die Leute sich erschießen oder wie das ist bei einem aufgesetzten Schuss . . . es haben sich ja damals viele mit dieser Waffe . . . Das ist eine Wehrmachtspistole. Man kann sie nicht mehr laden und abfeuern, sehn Sie, da ist alles dichtgemacht. Jedermann hatte so eine, Soldaten und Offiziere. Ich hab die auch getragen.“ Das Telefon klingelt. Reglos und mit erhobener Waffe steht der alte Herr im weißen Kittel da. Dann legt er sie beiseite, setzt sich, sagt wieder, er könne die Wehrmacht nicht heruntermachen, blättert hektisch im Stapelchen: „Ich war einfach der Wehrmacht verbunden, in Treue verbunden, nur der Wehrmacht . . . Ich bin verwundet worden an der Ostfront, bei Rostow am Don, habe dann mit Medaille und Frontbewährung zwei Trimester Medizin studieren dürfen in Wien, danach ging’s an die Westfront, und da bin ich in Düren verwundet worden. Dort war ein großer Fliegerangriff, 6.000 Tote . . . Ich kam dann in amerikanische Gefangenschaft und war interniert auf den Rheinwiesen . . . eines Tages haben sie uns nach Belgien geschleppt, nach Namur.
Mit dem Zug haben sie uns transportiert, in offenen Viehwagen und auf den Brücken standen Leute und haben große Steine auf uns runtergeworfen, wer getroffen war . . . Man stand da, dichtgedrängt, war dekorierter Soldat und konnte nichts machen. Danach wurden wir nach Frankreich weitertransportiert, nach Salon sur Marne. Später bin ich noch mal hingefahren. Es ist alles nicht mehr da! – Aber was ganz wichtig ist . . . es ist leider so, dass es nicht mehr gesagt wird heute, dass wir streng katholische Österreicher waren, ganz streng katholisch erzogen – wir haben ja, als Hitler kam, tagelang geschrien: EIN VOLK, EIN REICH, EIN FÜHRER! Ach Gott, ach Gott . . . Und wir sind als Christen mit dem kirchlichen Segen und einer Gürtelschnalle, auf der stand GOTT MIT UNS, in den Krieg gegen den gottlosen Bolschewismus gezogen. Und was haben wir aus dem Krieg gelernt? NICHTS!“
Herr Professor Prokop sitzt mit versteinertem Gesichtsausdruck in seinem halb leeren Arbeitszimmer, aus dem er von heute auf morgen ausgewiesen werden kann. Das Wichtigste in seinem Leben scheinen Beweis, Eid und Treue zu sein. Morgens um sieben beginnt sein Arbeitstag, mittags isst er Müllers Milchreis, um 16 Uhr geht er nach Hause.
Er hat 40 Jahre Aarbeit an vier Universitäten hinter sich, hat mehr als 500 Veröffentlichungen vorgelegt – darunter berühmte Lehrbücher und Brandschriften gegen wissenschaftlichen und religiösen Aberglauben. Er hat 25 Schüler habilitiert – allesamt in der DDR –, acht davon sind Ordinarien für gerichtliche Medizin, vier in Deutschland, vier in Japan. Er hat 50.000 Leichen obduziert – die Einwohner einer mittleren Kleinstadt sozusagen – und ebenso viele Studenten hat er ausgebildet in seinem Leben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen