: Nach der Landung
Von Träumen, Siegerposen und anderen Höhenflügen: In seinem Fotoband „Startbahn Ost“ erzählt Günter Bersch vom Leben vor und nach der Wende
von ANDREAS HERGETH
Der alte Mann mit dem grauen Rauschebart guckt in die Luft und lacht. In seinem Rücken ist das Tacheles zu sehen, aus dessen Bauch eine MIG ragt, ein russischer Düsenjet, so als ob er gleich los fliegt. Wolfgang Sisyphus Graubart, so heißt der alte Mann auf dem Foto, träumte zeit seines Lebens vom Fliegen und landete auf der Straße.
Eine lange Geschichte, eine von vielen: „Startbahn Ost“, so heißt der erste Bildband des Berliner Links Verlags (208 Seiten, 68 Mark). Fotograf Günter Bersch erzählt darin von zehn Ostdeutschen, die er auch schon vor der Wende mit der Kamera begleitete. Ilona Rühmann ergänzt die schwarzweißen Aufnahmen mit Texten, die auf ein paar Seiten ein ganzes Leben raffen.
Im Fall des Wolfgang Sisyphus Graubart beginnt die Erzählung mit dem Ende, „Den Träumen entgegenfliegen“ steht auf seinem Grabstein. Der Berliner war in seinem ersten Leben Flakhelfer und Kriegsgefangener, später Parteischullehrer und Ingenieur. Der Tod seiner Frau Rita veränderte viel. Wolfgang schlief fortan auf der Straße, ließ den Bart wachsen, nahm den „Graubart“ auch als Namen an. Er saß in Kneipen herum, philosophierte gern (daher „Sisyphus“) und spielte beim Obdachlosentheater „Die Ratten“. Und er schrieb Gedichte: „An der Grenze des Glücks pack ich meine alte Balancierstange aus, wische den Staub ab und frage mich, ob es noch geht ...“
Auf Günter Bersch Fotos sieht man Wolfgang Sisyphus Graubart nicht balancieren. Wie auch, der alte Mann ging am Stock, trank Rotwein am Marx-Engels-Denkmal, rauchte eine vor seiner Lieblingskneipe „Zum Bummelanten“ oder saß in der Sonne auf dem Französischen Friedhof, wo seine Rita begraben liegt. Die letzten Aufnahme zeigt den Alten im Porträt ganz nah, im Hintergrund ist ein Schriftzug zu lesen. „Die Grenze verläuft nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen oben und unten.“
Peter und Gabriele Butze sind dagegen nach wie vor in „bester Form“. Die beiden ehemaligen DDR-Meister im Bodybuilding betreiben heute in Chemnitz ein Fitnessstudio. „Eine Familie in Siegerpose“: Papa Bodybuilder im Tanga zeigt vor der Schrankwand die Muskeln, Mama Bodybuilder und Tochter Bodybuilder halten eskortierend Pokale hoch.
Andere tanzen heute in der zweiten Reihe. Gabriele Berlinghoff galt zu Zeiten der als Nummer Eins des Geraer Balletts. Heute allerdings gehört Konkurrenz aus aller Welt zum Ensemble, und die Primaballerina findet sich in der zweiten Garde wieder. Wiederum andere verkaufen sich und ihre Vergangenheit: Ein Exoffizier archiviert Mauergeschichte und erzählt in einem Grenzmuseum offen von seiner Vergangenheit. Und eine Berliner Lehrerin ist auch heute noch Lehrerin.
„Startbahn Ost“ zeigt im zehnten Jahr der Einheit, dass die Dramatik des Ausnahmezustandes in Ostdeutschland längst vorbei ist. Die einen sind durchgestartet, andere abgestürzt. Doch die meisten ganz einfach im – neuen – Alltag gelandet.
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