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Noch kein toter Hund

Robert Service führt Lenin nur als Architekten des repressiven Systems und als Autokraten vor, der eingesperrt im Gebäude seiner Dogmen lebte

von CHRISTIAN SEMLER

Biografien großer Persönlichkeiten antworten auf elementare Bedürfnisse des Lesers. Wir wollen, wenigstens nachträglich, teilhaben an Augenblicken, „wo Männer Geschichte machten“. Andererseits dürsten wir nach Klatsch und Tratsch, um unseren Helden wieder herunterzuziehen ins Allzumenschliche. Beide Bedürfnisse widersprechen sich überhaupt nicht. Sie finden auch in der material- und gedankenreichen, jetzt in deutscher Sprache erschienenen Lenin-Biografie des englischen Historikers Robert Service reichlich Nahrung.

Dass in den letzten zehn Jahren eine Reihe neuer, gewichtiger Studien über Lenin erschienen sind, erklärt sich aus der Öffnung bis dahin unzugänglicher (ehemals sowjetischer) Archive. Robert Service, dem wir auch eine umfängliche Studie über Lenin und die bolschwistische Partei verdanken, nutzte die Gunst der Stunde. Seine Lenin-Biografie wertet systematisch Quellen aus, die auch in Dimitri Wolkogonows „Lenin, Utopie und Terror“ (in deutscher Sprache erschienen 1994) noch nicht berücksichtigt waren.

Wolkogonows Studie ist ein Dokument quasistaatsanwaltschaftlicher Anklage gegen den „Verbrecher“ Lenin. Service hingegen analysiert, wie es sich fürs Fach geziemt, in kühler Distanz. Aber beide operieren in einem Bereich, der politisch wie psychologisch vollständig polarisiert ist durch die Wertung des Verhältnisses Lenin–Stalin. War bis zum Tode Stalins die vollständige Übereinstimmung Stalins mit seinem Lehrmeister sakrosant gewesen, so setzte mit der „Entstalinisierung“ in der Chruschtschow-Zeit eine umgekehrte Tendenz ein. Jetzt war es Stalin, der Lenins humanes Erbe verraten hatte. Es galt, zum „authentischen“ Leninismus zurückzukehren. Noch der Euro-Kommunismus hielt an dieser Version fest. Er interpretierte die letzten Schriften Lenins als eine Art Selbstkritik, die der sozialistisch-demokratischen Reform des Sowjetstaates den Weg ebnen sollte. Seit 1991 wird im voräufig letzten Akt dieses Beziehungsdramas Lenin als Architekt, Stalin als ausführender Bauleiter bei der Errichtung eines repressiven Systems angesehen.

Service lässt keinen Zweifel daran, dass er letztere Version für die den Quellen einzig adäquate hält. Wie die russischen historischen Werke der 90er-Jahre gibt auch Service Lenins Hass breiten Raum– seinem Hass auf die herrschenden Klassen des Kaiserreichs, seinen oft blutrünstigen Aufrufen zu Strafgerichten gegen Popen/Kulaken/Gutsbesitzer nach der Oktoberrevolution, seiner Geringschätzung rechtsstaatlicher Verfahrensweisen, seiner Gefühllosigkeit angesichts des Leidens „der Massen“. Für Service sind solche Verhaltensweisen der Ausdruck eines Rachefeldzugs, mit dem Lenin (damals noch Wladimir Iljitsch Uljanow) auf die Hinrichtung seines älteren Bruders, eines Verschwörers gegen den Zaren, und auf die nachfolgende soziale Degradierung seiner Familie reagierte.

Viel mehr als seine Marx-Orthodoxie vermuten lässt, stand Lenin unter dem Einfluss der terroristischen Tradition innerhalb der Narodniki, war er Bewunderer des Anarchisten Bakunin und sogar eines zwielichtigen Terroristen wie Netschajew, für den die russische Linke im 19. Jahrhundert nur Verachtung übrig hatte. Sein Organisationskonzept hingegen soll Lenin von Pjotr Tkatschow geborgt haben, dem Anhänger der strengen, zentralistisch geführten Konspiration. Eine solche Ahnenreihe hatten nach der Oktoberrevolution bereits die aus Russland herausgeworfenen Menschewiki konstruiert. Ihr Ziel war es, Lenin nachträglich aus den Reihen der russischen Marxisten zu exkommunizieren.

Wie aussichtslos auch der Versuch ist, Lenin anhand überprüfbarer Quellen nachträglich zum Vollstrecker der Terroristen zu stilisieren, der Einfluss des Familienschicksals der Uljanows auf Lenins emotionale und intellektuelle Entwicklung ist nach Service’ Darstellung offenkundig. Die ersten 16 Lebensjahre Wladimir Iljitschs werden mit Hilfe neuer oder lang unterdrückter Quellen nuancenreich geschildert. Wir lernen einen hochbegabten, von seiner Umwelt verhätschelten, empfindsamen Jungen kennen, der vollständig in der aufklärerischen, philantropischen, westlich orientierten Welt seiner Eltern aufging. Diese Familie wollte die Reform Russlands – mit, nicht gegen den Zaren. Für diesen Irrtum hat sie bezahlt. Service hat sicher Recht, wenn er im sozialen Ausschluss der Familie, in der feigen Abkehr des bürgerlichen Umfelds von den Uljanows nach der Hinrichtung des älteren Bruders ein prägendes Erlebnis sieht. Service hält Lenins Entwicklung nach dessen Hinwendung zum Marxismus, wie ihn die Orthodoxie Kautskys lehrte, im Wesentlichen für abgeschlossen: Lenin habe sich weitgehend von der sozialen Wirklichkeit Russlands abgeschirmt. An Stelle einer realen Analyse habe er Zitate „der Klassiker“ gesetzt. Freilich habe er, vor allem anlässlich der Oktoberrevolution und auch danach, mit einem erstaunlichen Pragmatismus agiert, wobei er die Ansichten von Marx und Engels den rasch wechselnden Anforderungen der politischen Lage angepasst habe. Dieses Anpassungsvermögen erklärt Service mit „politischem Instinkt“ – und mit dem unerklärten Einfluss Niccolo Machiavellis.

So scharfsinnig der Autor Lenins intellektuelle Formationsphase beschreibt, so sehr bleibt er den Lesern eine Erklärung für Lenins Originalität bei einer Reihe von Überlegungen und Entscheidungen größter politischer Reichweite schuldig. Von der Parole „Verwandlung des imperialistischen Kriegs in den Bürgerkrieg“, von der Inanspruchnahme kaiserlich-deutscher Hilfe bei der Rückkehr der Bolschewiki nach Russland, vom Friedensschluss von Brest-Litowsk bis zur Abkehr vom Kriegskommunismus und der Hinwendung zur „Neuen ökonomischen Politik“ (NÖP) sehen wir einen Revolutionär, der sich absolut furchtlos der jeweiligen Mehrheitsströmung auch in der eigenen Partei entgegenstellt und der keineswegs nur vom Lauf der Ereignisse getrieben wird. Vielmehr enthüllt sich in diesen Entscheidungen eine Vision von Geschichte, die in Sprüngen verläuft, sich in Widersprüchen vorwärtsbewegt. Mit Recht verweist Service auf die Bedeutung des intensiven Hegel-Studiums, dem sich Lenin im Ersten Weltkrieg unterzog. Er unterlässt es aber, eine tiefere Einsicht in den geschichtlichen Verlauf in Beziehung zu setzen zu Lenins praktischer Politik.

Besonders krass wirkt sich diese Voreingenommenheit aus, wenn Service von dem Widerspruch schreibt zwischen Lenins These, dass die Arbeiter von sich aus nur eines beschränkten, tradeunionistischen Bewusstseins fähig seien, was die Notwendigkeit der Avantgarde-Partei erklärt, und seinem geradezu schrankenlosen Vertrauen in die Fähigkeit der gleichen Arbeiter, den sozialistischen Noch-Staat aufzubauen und zu leiten. In der Tat gibt es zwischen „Staat und Revolution“, das gegen Ende des Ersten Weltkriegs entstand, und der Organisationsbibel „Was tun?“ aus der Anfangszeit der bolschewistischen Bewegung eine klaffende Differenz. „Staat und Revolution“ schließt sich eng an die Commune-Schriften von Marx an, und Marx war in Sachen Organisation des Proletariats bekanntlich ein Sponti, ein Luxemburgist, um es anachronistisch auszudrücken. Aber Lenin?

Für Robert Service ist das Vertrauen, das Lenin in die Fähigkeit des Proletriats zum Aufbau des Sowjetstaats setzte, die schiere Heuchelei. Für ihn existiert nur Lenin, der Autokrat, eingesperrt in sein Dogmengebäude, und der Politiker Lenin, der machiavellistisch seine Chancen nutzt. Aber es gab noch ein paar weitere Lenins. Der Mann ist noch lange kein toter Hund, und die Zeit der Lenin-Biografien, sie ist noch lange nicht zu Ende.

Robert Service: „Lenin. Eine Biographie“. Aus dem Englischen von Holger Fließbach, 640 Seiten mit 49 Abbildungen und 4 Karten, C. H. Beck Verlag, München 2000, 68 DM

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