: Mit sechs Mark im Monat leben
Bagdads Bürger leiden Not. Eine Mittelschicht gibt es nicht mehr – nur noch viele bitterarme und wenige Superreiche: Saddams Freunde und sein Clan
aus Bagdad ANDREAS ZUMACH
Eine Tankstelle kurz hinter der jordanisch-irakischen Grenze. Der heiße Wüstenwind treibt den Sand in die tränenden Augen. Erst ein Drittel der fast 1.000 Kilometer langen Strecke zwischen den Hauptstädten Amman und Bagdad liegt hinter uns. 42 Grad zeigt das zerbeulte Thermometer an der verrrosteten Zapfsäule. Doch hier halten alle, die mit dem Wagen von Jordanien einreisen – derzeit noch die einzige Möglichkeit, in den seit über zehn Jahren mit einem internationalen Embargo belegten Irak zu gelangen. Denn hier ist das Benzin so billig wie nirgends sonst auf der Welt – zumindest für den ausländischen Besucher. 20 Dinar kostet der Liter – umgerechnet 2 Pfennig. Diesel ist noch preiswerter. „Früher, vor Beginn der Sanktionen, war ein irakischer Dinar etwa drei Mark wert“, erklärt der Tankwart, und kassiert für 50 Liter Benzin 1.000 Dinar, umgerechnet 1 Mark. Dass in Deutschland nur 1 Liter 2 Mark kostet, kann er kaum glauben. Das wären ja 2.000 Dinar – ein Drittel des durchschnittlichen Monatseinkommens im Irak.
Zum Abschied bietet er an, eine Benzinpipeline direkt von seiner Tankstelle nach Deutschland zu bauen.
Dabei hat der Irak es noch nicht einmal geschafft, die im Golfkrieg vor zehn Jahren von amerikanischen Kampfjets zerbombte Ölpipeline zwischen Irak und dem – vollständig von irakischem Öl abhängigen – Jordanien zu reparieren. Tag und Nacht fahren irakische Tanklastwagen dicht an dicht wie an einer Perlenkette aufgeschnürt zwischen den beiden Ländern hin und her. Die teilweise durchgerosteten Tankwagen verlieren viel Öl. Das macht die Verbindung Amman–Bagdad auf ihrem einspurigen Abschnitt in Jordanien zu einer der gefährlichsten Autopisten der Welt. Vor allem nachts sind Überholmanöver lebensgefährlich. Allein in den zehn Tagen meines Aufenthalts im Irak verunglückten zwölf Menschen tödlich – darunter die Direktoren der irakischen Nationalbank und der Weizenbehörde mit ihren Frauen und Töchtern.
6.000 Dinar – für viele Irakis reicht dieses karge Monatsgehalt nicht zum Überleben. Trotz der Ration von 2 Kilo Zucker, 9 Kilo Mehl, 2,5 Kilo Reis, 1,2 Liter Speiseöl plus ein wenig Seife und Waschpulver, die jedeR EinwohnerIn des Landes alle vier Wochen im Rahmen des humanitären Programms „Öl für Nahrungsmittel“ erhält. Die Altstadt von Bagdad ist ein einziger Überlebensmarkt. Entlang zweier Straßen von insgesamt gut anderthalb Kilometer Länge haben die Menschen ihre Bücher auf dem Bordstein ausgelegt und bieten sie zum Verkauf an. Krimis, Tolstoi, Kafka, der Koran, Schul- und Kochbücher, das Kapital von Karl Marx auf Arabisch – alles lässt sich finden und für ein paar Pfennig erwerben. Darunter kostbare antiquarische Schätze, von denen sich ihre Besitzer nur aus größter Not trennen.
Nahebei liegt der berühmte Kupfermarkt von Bagdad – einst stark frequentiert von in- und ausländischen Besuchern. Doch seit Verhängung der Sanktionen ist die Kundschaft um über 80 Prozent zurückgegangen, viele Läden sind geschlossen, nur in wenigen Werkstätten werden noch Kupfergegenstände hergestellt. „Wir produzieren fast nur noch für den Export nach Syrien oder die Türkei“ erklärt Sami al-Aaragi, einer der wenigen Kupferschmiede, deren Werkstatt noch geöffnet ist. Doch verdienen kann er mit diesem Verstoß gegen die Sanktionen kaum etwas. Das meiste Geld fließt in die Taschen von Zollbeamten beiderseits der Grenzen.
Ein paar Ecken weiter, in der Al-Sabbagh-Straße, bieten die Menschen ihre Möbel und anderen Hausrat zum Kauf an, auf dem angrenzenden Tahrir-Platz die Kleider, die sie nicht unbedingt selber brauchen. Hauptverlierer der letzten zehn Jahre ist die Mittelschicht. Allem al-Jibouri war Dozent für englischsprachige Literatur an der Universität, die – ebenso wie viele Schulen der Stadt – ihren Lehrbetrieb inzwischen weitgehend eingestellt hat. Im Unterschied zu vielen anderen hat er wenigstens einen Job gefunden, um seine dreiköpfige Familie zu ernähren. Für 5 Dollar die Stunde gibt Allem MitarbeiterInnen der in Bagdad ansässigen UNO-Organisationen Arabischunterricht und meint, das sei „unter den heutigen Umständen doch ein fürstliches Gehalt“.
Unten am Tigris sitzt der 91-jährige Ahmed Hardan auf der Terasse des Hauses, das er vor über 60 Jahren für sich und seine Familie gebaut hat. Hier saß er auch in der Nacht vom 16. auf den 17. Januar 1991. Das auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses gelegene petrochemische Werk war eines der ersten Ziele der amerikanischen Raketen. Der Architekt und ehemalige General der irakischen Armee beobachtet während des ganzen Golfkriegs die Einschläge von seiner Terrasse aus. „ Mich kriegt hier keiner weg“, erklärt er immer noch stolz. Vom Tigris wehen leise Musik und ein stechender Gestank herüber. Das Abwässerkanalsystem der Millionenstadt ist an vielen Stellen bereits zusammengebrochen. Für die sechs Pumpen gibt es seit über zehn Jahren keine Ersatzteile. Jetzt fließt ein Teil der Abwässer direkt in den Tigris, der zudem wegen der seit über zwei Jahren anhaltenden extremen Trockenheit kaum noch Wasser hat. Dennoch wird der berühmte Tigriskarpfen, aufgeschnitten, auf Stöcken aufgespießt und langsam neben einem Holzkohlefeuer gegart, immer noch von Einheimischen wie Ausländern gern verzehrt.
Neben dem Abwässersystem sind auch andere wichtige Teile der Infrastruktur der Millionenstadt Bagdad ganz oder teilweise zusammengebrochen. Der Strom fällt immer wieder aus – und damit auch die Pumpen für die Trinkwasserleitungen. Die meisten Bewohner der Stadt ertragen diese Widrigkeitenn des Alltages inzwischen mit stoischer Gelassenheit. „Gehen Sie mal in den Süden nach Basra“, meint der Portier meines Hotels „da ist alles noch viel schlimmer, da kommt nur noch braune, giftige Brühe aus den Wasserleitungen.“
Die Innenstadt Bagdads und einige der Ausfallstraßen sind fast Tag und Nacht durch stinkende, ständig hupende Autokolonnen verstopft. Das Durchschnittsalter der Vehikel liegt bei zwölf Jahren. Ersatzteile gibt es seit 1990 nicht mehr. Ständig bleibt irgendwo ein Auto mitten im Verkehr liegen und sorgt für kilometerlange Staus.
Öffentliche Verkehrsmittel gibt es kaum mehr. Pläne für den Bau einer U-Bahn liegen seit Beginn der Sanktionen auf Eis.
Wer ist für die prekäre Lage verantwortlich? Auf diese Frage ist in Bagdad eine eindeutige Antwort zu hören: die Amerikaner, die UNO, die Sanktionen. Selbst die wenigen Gesprächspartner, die nach zahlreichen Rückversicherungen und immer nur außerhalb von Gebäuden vorsichtig-kritische Äußerungen zum Regime von Saddam Hussein wagen, teilen diese Auffassung. Auch ein Hinweis auf die für jedermann sichtbaren Prunkpaläste, in denen Saddam Hussein und andere Privilegierte des Regimes im Luxus leben, können diese Überzeugung nicht erschüttern. Wer jemals in Washington oder sonstwo geglaubt haben sollte, mit den Sanktionen ließe sich das irakische Volk gegen Saddam Hussein aufwiegeln – hier in Bagdad kann er sich eines Besseren belehren lassen.
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