: Der Krieg. Die Sklaven. Der Freund.
Von 1942 bis 1945 musste Pawel Wassiljewitsch Pawlenko in Hamburg Zwangsarbeit leisten. Seither wartet er auf eine Entschädigung. Und sucht nach den Spuren einer Freundschaft ■ Von Elke Spanner
Seinen Kindern und Enkeln sagt Pawel Wassiljewitsch Pawlenko, dass sie diesen Mann ehren sollen. Sie haben ihn nie kennen gelernt, diesen Karl Viett, auch Pawlenko hat ihn nicht wiedergesehen seit damals. 1993 erfuhr er, dass der Freund zwischenzeitlich verstorben ist. Doch wenn Pawlenko über sein Leben spricht, beginnt er immer mit seiner Begegnung mit Karl Viett.
Seit zwei Wochen ist er im KZ Neuengamme, Häftlingsnummer 11720. Es ist Juni 1942, vor einem Monat wurde Pawlenko aus der Ukraine nach Deutschland verbracht, Zwangsarbeit. Seine Arbeit ist hart, sie ist eine Strafe, denn die Gestapo hatte Pawlenko der Sabotage verdächtigt, als er noch im Hafen im „Ostarbeiterlager“ hauste und Schiffe be- und entladen musste.
Jetzt ist er im Klinkerwerk auf dem KZ-Gelände eingesetzt. Mit der Schubkarre muss er Erde wegfahren, die andere Häftlinge aufladen. Die arbeiten im Akkord, und Pawlenko muss schnell sein, sehr schnell, denn sonst bringt er den Rhythmus durcheinander, und alle haben dann Strafen zu befürchten. Also fährt er Runde um Runde, noch eine und noch eine, täglich bei nur einem kleinen Stückchen Brot, bis ihm nach zwei Wochen schwarz vor Augen wird. Er taumelt, sieht vor sich schon seinen „Weg ins Krematorium“, und als er sich an einer Wand abstützen will, steht vor ihm Karl Viett.
Der Mithäftling ist zum Kartoffelschälen eingeteilt. In dieses Kommando nimmt er kurzentschlossen den entkräfteten Pawlenko auf. Beim Schälen kann dieser sitzen, und er kann heimlich die Reste essen, „rohe Kartoffeln, aber damals schmeckte das gut“. Karl Viett, sagt Pawlenko andächtig, „hat mein Leben gerettet“.
Noch fast drei weitere Jahre muss Pawlenko in Deutschland Zwangsarbeit leisten. Im Oktober 1942 kommt er zusammen mit seinem neugewonnenen Freund in die 2. SS-Baubrigade nach Bremen. Hier müssen die Männer Trümmer beseitigen, Steine wegschleppen mit der bloßen Hand, Straßen wieder freilegen, auf die zerbombte Häuser niedergekracht sind.
Noch heute erinnert sich Pawlenko an den Namen einer Straße, auf der er arbeiten musste, die „Kornstrasse“. Der Bremer Bürgermeister hatte sich anschließend bei der SS bedankt, dass die Route so schnell freigeräumt worden war. „Dabei waren es unsere Hände“, sagt Pawlenko.
Anschließend werden die Männer im Marinehafen in Wilhelmshaven untergebracht. Hier müssen sie Blindgänger aus der Erde ziehen. Im Kommando losen sie untereinander, wer die Bombe entschärfen muss. Die anderen verstecken sich solange. Zwei Mal zieht auch Pawlenko das falsche Los. Er überlebt. Acht andere Männer nicht.
Das letzte Mal sieht er seinen Freund Viett, als sie nach dem „Feuersturm“ im Juli 1943 wieder nach Hamburg kommen. Zehn Tage und Nächte war die Stadt bombardiert worden, 40.000 Menschen, wird man später erfahren, starben in den Trümmern. Pawlenko und Viett kommen in das „Leichenkommando“. Mit der Taschenlampe klettern die Häftlinge über die Trümmer in Keller, die Schutz bieten sollten und zum Grab wurden. Sie ziehen die Toten heraus. „Man gewöhnt sich daran“, sagt Pawlenko, nachdem er zunächst von seinem Entsetzen beim Anblick der Leichen erzählt hat.
Eines Tages entdeckt Pawlenko eine Öffnung in einer Mauer, durch die man unbeobachtet aus dem Kommando fliehen kann. Er zeigt sie seinem Freund. Der will türmen, Pawlenko will mit. Viett gelingt es, ihn davon abzubringen: „Du kannst kaum Deutsch, dich nehmen sie sofort fest“, erklärt er ihm. „Alleine kann ich es schaffen.“ Die beiden haben sich nie wieder gesehen.
Pawlenko überlebte den Nationalsozialismus, weil auch ihm später die Flucht gelang. Kurz vor Kriegsende kam er ins KZ Buchenwald. Von dort aus wurden Gefangene tageweise zur Trümmerbeseitigung in andere Städte gefahren. Eines Tages, während eines Luftalarmes, als alle Menschen in den Kellern und die Straßen leer waren, rannte Pawlenko zusammen mit anderen Häftlingen davon.
Seit Kriegsende lebt er wieder in der Ukraine, in Kiew. Zweimal war er seither in Hamburg. Ende Januar traf er hier mit Bürgerschaftspräsidentin Dorothee Stapelfeldt (SPD) und Handelskammerpräsident Nikolaus Schües zusammen, um über die Entschädigung von ZwangsarbeiterInnen zu sprechen. „Viele deutsche Firmen wurden dank unserer Sklavenarbeit gebaut“, sagt er. Die Entschädigung sei wichtig, „die Leute brauchen dringend Geld“. Er auch.
Doch ihm persönlich liegt noch etwas anderes am Herzen. Er hofft, die Familie seines Freundes Karl Viett ausfindig zu machen, die nach dem Krieg in Harburg gelebt haben soll. Vietts Tochter möchte er von seiner Begegnung mit ihrem Vater erzählen. Und er würde gerne ein Foto von ihm mit nach Hause nehmen, „um es meinen Enkeln zu zeigen“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen