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Der Antisemitismus war ihm zu ordinär

Für Rudolf Steiner hatten die Offenbarungsreligionen abgewirtschaftet. Daher sein Satz: Juden hätten „sich ausgelebt“

War Rudolf Steiner Antisemit? Mancher Linke – aber auch mancher Rechte – meint heute, das war er. Aber war er das wirklich? Das Prädikat wird heutzutage schnell verteilt. Man hat sogar von einer Inflation des Antisemitismusverdachts gesprochen. Zuletzt war Peter Rühmkorf an der Reihe, selbst Goethe blieb nicht verschont. Die komplexe Wahrheit bleibt dabei meist auf der Strecke.

Auch Steiners umfangreiches Werk musste schon für alle möglichen Projektionen herhalten. Anfang der 70er-Jahre galt er den linken Systemveränderern wegen seiner sozialen Ideen als „Astral-Marx“. Da war noch immerhin etwas dran. Am Antisemitismus aber ist bei Steiner überhaupt nichts dran. Zu seinen Lebzeiten jedenfalls galt er den wirklichen Antisemiten als „Jude reinsten Wassers“. Die Nazis sahen sein Werk als „jüdische Methode“ an (Hitler) und als „extrem rassefeindlich“.

Steiner stand schon im 19. Jahrhundert auf einem radikal aufklärerischen Standpunkt. Er war der Überzeugung, die „Offenbarungsreligionen“ hätten „abgewirtschaftet“ (1887). Die ganzen imperialistischen Rassenideologien interessierten ihn schlichtweg nicht, weil er sie als ordinär ansah. Er hielt, wie er sich 1894 ausdrückte, jede Erklärung des einzelnen Menschen aus Gattungseigentümlichkeiten für ein Dokument der Unfähigkeit, das Individuelle am Menschen verstehen zu können.

Das Wesen des Christentums sah Steiner 1888 in der Überzeugung von der „Gleichwertigkeit aller Menschen vor Gott und ihresgleichen“. Das war für ihn zugleich der Kern des „liberalen Prinzips“, der bedeutendsten Errungenschaft der Neuzeit. Die Idee der Menschenrechte forderte einen säkularen Staat: Das Prinzip der weltanschaulichen Neutralität des Staates setzte für Steiner das Recht des Einzelnen frei, sich zu der von ihm für maßgebend befundenen religiösen Überzeugung zu bekennen. Er betrachtete aber alle Religionen – wie Hegel – lediglich als Vorstufen des wissenschaftlichen Bewusstseins. Von daher drückte Steiner seine Überzeugung aus, das „Judentum“ „habe sich längst ausgelebt“ – ebenso wie das konfessionelle Christentum oder der Islam. Von einer „jüdischen Rasse“ ist nirgends die Rede.

Die jüdischen Assimilanten strebten danach, in den Kulturen und Völkern, in denen sie lebten – wie Theodor Herzl schrieb –, „unterzugehen“. Steiner konnte in diesem Vorgang nichts Schlechtes sehen, sondern einen historischen Prozess, den er begrüßte – wusste er doch, dass „Aufhebung“ im Sinne Hegels auch Erhöhung und Bewahrung bedeutete. Für „gefährlich“ hielt er die zionistischen Bestrebungen, weil sie eine jüdische „Nationalität“ rekonstituieren wollten, in der er eine Gefährdung von Emanzipation und Assimilation sah. Außerdem ließ sich das Projekt des „Judenstaates“ in seinen Augen nur im Rückgriff auf völkische oder rassische Denkformen realisieren. In Steiners Plädoyer für die Assimilation der Juden ist daher immer eine antirassistische Stoßrichtung mitzudenken.

Nachdem seine Grundposition vor der Jahrhundertwende klar ist, sollte man sich davor hüten, in Steiner nach der Jahrhundertwende etwas hineinzuinterpretieren, was nicht vorhanden ist. Auch nach der Jahrhundertwende bleibt er dem Kern seines Denkens treu: Steiner sieht das Wesen des Menschen in der freiheitsfähigen Individualität, nicht in einer etwaigen Volks- oder gar Rassenzugehörigkeit.

Dem Judentum erkannte er eine „historische Mission“ zu, eine Mission, deren Tragweite er 1910 darstellte. In einem öffentlichen Vortrag über Moses wies er auf dessen zentrale Bedeutung für die Konstitution der Neuzeit hin. Die Menschheit verdanke Moses das wichtigste Element im gegenwärtigen Kulturleben, die Fähigkeit, aus freiem Ichbewusstsein denkend zu einer Erkenntnis der Welt zu gelangen.

Die scheinbare Widersprüchlichkeit Steiners, die manche Beobachter aus Zitaten ableiten wollen, soll hier nicht aufgelöst werden; es kommt darauf an, den Gesichtspunkt zu verstehen, den er jeweils einnimmt. Sein Denken ist multiperspektivisch, nicht monoperspektivisch.

Steiners Charakterisierungen der Radau-Antisemiten, die sich außer ihrer „Eignung zum Toben und Lärmen“ durch nichts als den „gänzlichen Mangel an Gedanken“ auszeichneten, seine Verurteilung der „empörenden Ausschreitungen“ der „antisemitischen Wüteriche“, die sich in ebenjenen Aufsätzen finden, die der begnadete und „neutrale“ Pamphletist Bierl so einseitig exzerpiert, zeigen, dass Steiner auch die beiden anderen Kategorien kannte, von denen Nordau im Hinblick auf die Antisemiten 1897 sprach: die „Wilden“ und „boshaften Toren“.

Seine Prognosen (1917 und öfter) über die Katastrophe, in die der Rassismus führe – der für ihn den Antisemitismus einschloss –, dokumentieren seine Grundüberzeugung: „Denn durch nichts wird sich die Menschheit mehr in den Niedergang hineinbringen, als wenn sich die Rassen-, Volks- und Blutsideale fortpflanzen.“ LORENZO RAVAGLI

Der Autor antwortet auf Peter Bierls Artikel „Steiner mutiert zum Freund der Juden“ (taz v. 21. 2. 01). Ravagli ist Beauftragter des Bundes der Freien Waldorfschulen für Paradigmenfragen. Nach Philosophie- und Schauspielstudium zwölf Jahre Mitarbeit an einer Waldorfschule. Herausgeber des „Jahrbuchs für anthroposophische Kritik“. Er lebt mit Frau und drei Kindern in München.

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