: „Jetzt alles kaputt“
Als Frührentner sind sie zurückgekehrt in ihre griechische Heimat und haben bei der deutschen Krankenkasse Pflegegeld beantragt. Auf Hausbesuch mit der Vertrauensärztin
von MARIANNE MÖSLE
Es ist die Zeit der „Pashalies“, der violettroten Ostersträucher in Epirus. Die alte Frau auf dem Feld oberhalb der Straße nimmt ihr schwarzes Kopftuch ab, holt Luft und stemmt kräftige Hände in die Hüften. „Kyra Vangeli!“, ruft sie den Abhang hinunter, „Frau des Evangelos“.
Besuch aus Deutschland. Fremde sind selten in Vrisopoula im Bezirk von Igoumenitsa. Eine Handvoll Häuser stehen im Dorf, eine byzantinische Kirche, irgendwo bimmeln die Glöckchen der Ziegen. Der Abstieg zur Steinhütte des Evangelos ist steil, aber seit kurzem geteert. Zwischen Olivenbäumen taucht der rote Haarschopf seiner Tochter auf.
„O iatros“, die Ärztin aus Deutschland, sei da. Keuchend stellt uns Angeliki bei Evangelos und seiner kleinen Frau vor. Der versucht mühsam sich aufzusetzen. „Deutschland schön!“ Der gebrechliche Mann stammelt, aber die rot geränderten Augen leuchten. „Von 1961 bis 85, ich dort arbeiten, sehr gut.“
Nein, Deutsche ist sie nicht, rückt Dr. Eleni Jelastopulu zurecht, aber in Stuttgart aufgewachsen, und dort hat sie auch studiert. Seit kurzem lebt sie in Patras auf dem Peloponnes und reist im Auftrag des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Baden-Württemberg quer durch Griechenland, um ehemalige Gastarbeiter und deutsche Auswanderer zu begutachten, die bei der deutschen Krankenkasse Pflegegeld beantragt haben.
„Ich 24 Jahre Deutschland“, presst Evangelos hervor. „Jetzt alles kaputt.“ Sophia, die Frau im grauen Wollkittel, lächelt, das Gesicht von Sonne und Arbeit geschrumpft wie ein Apfel. Mit den Händen wischt sie über den ausgebeulten Rock, dann nimmt sie die linke Hand ihres Mann in ihre rechte, knetet sacht, damit das Zittern aufhört. Auf den Rücken deutet sie, da tut’s ihm weh, auch nachts. Die Nieren wollen nicht mehr. Da hilft auch der grob gestrickte Pullover nicht, den sich Evangelos trotz der sommerlichen Temperaturen um die Hüfte geschlungen hat.
„In Duisburg! Kennst du Mannesmann?“ Er hat am Hochofen gearbeitet, für zwei Mark fünfzig die Stunde. Dass der kranke Mann eine Dialyse bräuchte, ist offensichtlich. „Ein Dialysezentrum? Mein Gott“, sagt Dr. Jelastopuludas, „das ist undenkbar in dieser Gegend.“ Sie erkundigt sich nach der Vorgeschichte, nach Pflegepersonen und Pflegezeiten. Die Antworten strengen den 75-Jährigen an: Diabetes seit zwanzig Jahren, Niereninsuffizienz. Als Frührentner hat man ihn nach Hause geschickt. Fortbewegen kann er sich nur noch mit Hilfe. Einen Rollstuhl bräuchte er. Obwohl er in diesem provisorisch eingerichteten Haus am Hang nicht weit damit käme. Seit kurzem zittert er, die Ärztin vermutet Parkinson. Auch das Essen sei schwierig, Waschen und Schlafen.
Dann schweift Evangelos wieder ab, erinnert sich lieber an die Zeit in Deutschland. Dass er alleine dort lebte, ohne Frau und Töchter – das war eben so. Die Frau hat sich um Kinder, Schafe und die paar Oliven kümmern müssen. Außerdem war der Evangelos doch jedes Jahr zwei Monate auf Urlaub. Sechzig Tage, das reicht, mischt sich Sophia mit krächzender Stimme ein. Hätte er auf einem Schiff angeheuert, wäre er viel weniger zu Hause gewesen.
Von dem Geld, das der Vater nach Hause geschickt hat, konnte man ein Zweifamilienhaus bauen. Unten im Tal, wo alles bequemer ist. Dort hat die Familie auch eine Weile gelebt. Aber die feuchte Luft hat der angeschlagenen Lunge des Vaters nicht gut getan. „Jetzt, wir wohnen wieder oben, wie früher.“
Zwei Stunden Fragen, die Ärztin hat geduldig 21 Blöcke zu „activity“ und „daily living“ abgehakt. Nicht ohne dem alten Mann und seiner Familie pflegerische Ratschläge zu geben. Was er essen soll, wie man ihm das Schlafen erleichtert. Dann, als es niemand hört, sagt sie: „Komm, weg hier, aus dieser steinigen Gegend.“ Das Schicksal des Evangelos geht ihr an die Nieren.
In das Schicksal von todkranken Menschen und ihren Familien, Anteil nehmen, trotz allem sachlich bleiben, objektiv urteilen und dann wieder wegfahren, das ist selbst für eine Ärztin nicht einfach. Oft ist es eine Kunst für sich, die Pflegeversicherten aufzufinden. Viele leben ohne Telefon, in Gebirgsdörfern, verstreut bis in die letzten Winkel des Festlands und der Inseln. Einmal wurde die Ärztin nach stundenlanger Irrfahrt erst in der Kartei der Stromabrechnungsstelle fündig. Zur Begrüßung wurde ihr dann nicht mal ein Glas Wasser angeboten. Die Frau des Evangelos dagegen packt uns Wein und viele Stücke selbst gebackene Pitta in eine Plastiktasche. Für die Reise, sagt sie. Dann nimmt sie uns in die Arme, küsst uns und teilt den Segen aus, als wären wir ihre Töchter. Wir fahren weiter in Richtung Osten, nach M., ein kleines Dorf im Tal. Vom Horizont her knäult uns eine Schafherde entgegen.
Aus Liebe, sagt Parthena V. (Name geändert), sei sie damals, 1973, nach Deutschland gezogen. Sie war fünfzehn, fertig mit der Volksschule. Dimitrios war auf Urlaub im Heimatdorf, „dann hat er um meine Hand angehalten, innerhalb einer Woche haben wir geheiratet.“ Überallhin wäre das Mädchen ihm gefolgt. Dass sie von ihrem Mann vergewaltigt und misshandelt wurde, sagt die knapp 43-jährige Frau im Rollstuhl nicht, sondern: „Es war Liebe auf den ersten Blick.“
Ihre dünnen Beine, eingewickelt in blaue Leggings, tragen sie nicht mehr, ein sonnengelbes Sweatshirt zügelt die ruckartigen Bewegungen von Körper und Armen. Mit 21, kurz nachdem das dritte Kind da war, fingen die Schwächegefühle an, die Beine folgten nicht, mit ihren Händen griff sie ins Leere. „Morbus Friedrich“, haben die deutschen Ärzte diagnostiziert, eine erbliche Erkrankung mit Muskelatrophie und Polyneuropathie, der Multiplen Sklerose nicht unähnlich. Eleni macht Notizen zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit, zur Familiensituation. Die Kranke lächelt, blickt mit lieblichem Blick auf die Fotos, aufgereiht auf dem Kamin. Spiros, Jannis und Sotiris, die drei Söhne, zwei mit weißen Bräuten, ein krabbelndes Kind. „Ich – Oma.“
Fünfzehnjährig hatte sie in Plettenberg bei Hagen als einziges Mädchen eine Stelle in derselben Bohrmaschinenfabrik wie ihr Mann bekommen und mit der Maschine Löcher gebohrt. Dann zwei Söhne geboren, die der Mutter nach Hause in Griechenland geschickt und weiter gebohrt. „Ich arbeiten – wie ein Mann.“ Als sie wieder schwanger wurde, hat sie abgetrieben. Weil ihr Mann sie in der Fabrik haben wollte. Dass vier Jahre später noch ein dritter Sohn zur Welt kam, war Zufall. „Der Arzt war nicht da.“ Die Kranke lacht ein kindliches Lachen.
Später schaut ihre Mutter vorbei, schenkt Honig, nimmt uns in die Arme: „Armut macht viele Kinder.“ Sechs ihrer sieben Kinder sind nach Deutschland gezogen, fünf zurückgekommen, vier krank geworden. Kühlschränke haben sie mit in die Berge gebracht, Fernsehapparate und Elektroherde. „Heute, ich kann nur noch fernsehen“, sagt die Tocher lapidar. „Ich nicht interessant.“ Wegen ihrer Krankheit hat sich Parthena immer geschämt.
Zu Vermögen und Wohlstand haben es nur wenige der ehemaligen Gastarbeiter, die jetzt Pflegepatienten sind, gebracht. Manche haben ihr eigenes Haus gebaut oder das sauer verdiente Geld in die Ausbildung der Kinder gesteckt. Eleni Jelasopulu hat Griechen erlebt, die nur schwer wieder Fuß fassen konnten in der fremd gewordenen Heimat. In heruntergekommenen Pflegeheimen hat sie kranke, verwahrloste Menschen gesehen, Pflegebedürftige, die keine Unterwäsche tragen, weil diese niemand wäscht. Manche Patienten traf sie gar nicht mehr an, weil sie verstorben waren, der Totenschein aber aus kuriosen Gründen die deutsche Pflegekasse nicht erreicht hatte. Oder den einen, der weder pflegebedürftig noch pflegegeldberechtigt war und es trotzdem versuchte und ihr hunderttausend Drachmen für Pflegestufe eins zustecken wollte.
In Paramythia, einer kleinen Stadt mit rund zweitausend Einwohnern, brennen die Lichter. Ein Mann, der vor seinem Laden auf späte Kundschaft wartet, weist uns den Weg zu unserer Patientin. Es ist neun Uhr abends. Aber kein Grund, nicht zu klingeln, meint Eleni Jelastopoulu. Erst um 23 Uhr beginnt das Privat- oder Nachtleben, davor kann kommen, was oder wer will.
Eine Frau mit langen blonden Haaren öffnet uns – im hellblauen Nachthemd. Aber nein, wir stören nicht, keineswegs, behauptet sie. Sie habe halt gelegen wegen ihrem Bein. Dann bietet Elefteria uns Platz auf ihrer deutschen Eckbank an. „Mein Gott, Deutschland!“ Sie schwärmt, obwohl sie dort vor über dreißig Jahren alle Finger der linken Hand unter einer Schneidemaschine verloren hat. Ein paar Jahre später wurden ihr bei einem Arbeitsunfall Knie und Hüfte zertrümmert. Der Zustand des Knies hat sich in den vergangenen Jahren massiv verschlimmert, im Oberschenkel staut sich das Wasser, von einer neuen Operation will die Frau jedoch nichts wissen.
Ob sie sich alleine versorgen kann, fragt die Ärztin. Nur schwer, erklärt Elefteria, die Treppenstufen vor dem Haus kommt sie mit Krücken hoch. Und schlafen? Nein, da hat sie keine Probleme. Aber sie brauche Hilfe beim Einkaufen und Kochen. Während die Frau von ihrer Krankheit erzählt, rasselt es in ihrer Brust. Ob wir München kennen, will sie wissen, plaudert weiter in bestem Deutsch, während sie uns ein bayerisches Bier aus der Küche holt. 1960 hat es sie mit Mann und Sohn dorthin verschlagen, zur Arbeit in einer Kartonagenfabrik. Später, nachdem ihr Mann sie verlassen hatte, versuchte sie es mit Heimarbeit. Da nähte die blonde Griechin Dirndl und Trachtenanzüge für die Münchner Schickeria.
Schwer atmend schleppt sie rote Fotoalben an. Um Elefterias Augen haben sich tiefe Falten gegraben, in denen sich das Schwarz des Kajals in Rinnsalen sammelt. Sie zeigt auf Bilder: Hier, im Hofbräuhaus. Ach, und hier am Starnberger See, mit ihrem zweiten Mann, dem Deutschen „Mayer“. „Damals, als ich noch ein hübsches Mädel war.“ Heute ist sie 67, der Nagellack auf den Fingernägeln blättert ab. „Freilich“, sagt sie immer wieder und: „Schee isch’s gwesn“.
Ein Haus in Griechenland hat Elefteria nicht gebaut, und freiwillig ist sie 1996 auch nicht zurückgekehrt. Sondern aus Not. Ganze 521 Mark Rente bezahlt ihr die deutsche Kasse. Von der Berufsgenossenschaftlichen Krankenkasse kommen 430 Mark Invalidenrente dazu. Nur mit Hilfe ihres Bruders, sagt sie, und ihres 102-jährigen Vaters hält sie sich über Wasser. „Ich würd so gern noch einmal in München über den Marienplatz laufen.“ Mit der deutschen Freundin beim Oktoberfest ein Bier trinken und im feinen Trachtengeschäft auf dem Stachus ein Dirndl anprobieren. Auf Pflegegeld soll sie sich aber keine allzu großen Hoffnungen machen, sagt ihr die Ärztin beim Abschied, ehrlichkeitshalber.
MARIANNE MÖSLE, 41, lebt als freie Journalistin in Tübingen
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