: Macht-Marionetten bei NTW
Am Osterwochenende kam es zum Eklat: In einem Handstreich verschaffte sich die neue, von Gasprom eingesetzte Führung des unabhängigen Senders NTW Zugang zu den Chefetagen
von BARBARA KERNECK
Der größte unabhängige Fernsehkanal Russlands, NTW, existiert seit Samstagnacht nur noch dem Namen nach. Nachdem schon vor zwei Wochen der Hauptaktionär des Senders, die Erdgas-Monopolgesellschaft Gasprom, einen neuen Generaldirektor und eine neue Redaktionsleitung eingesetzt hatte (die taz berichtete), verschaffte sich diese Führung in einem Handstreich endlich auch faktischen Zugang zu den NTW-Chefetagen. Daran hatte sie bisher der Zusammenhalt der schlachterprobten traditionellen NTW-Mannschaft ebenso gehindert wie die Empörung der Öffentlichkeit in den russischen Großstädten, wo Zehntausende gegen die Übernahme ihres Lieblingssenders durch Regierungs-Marionetten protestierten.
Gasprom nutzte die Menschenleere in den Redaktionsgebäuden am österlichen Wochenende – ausnahmsweise fiel diesmal das orthodoxe Osterfest auf das gleiche Datum mit unseren Feiertagen. Der Coup verlief gewaltlos, obwohl er von Kräften vollzogen wurde, die Gewaltanwendung repräsentieren. Gasprom-Security-Leute forderten die Wachen im NTW-Foyer auf, ihre Plätze zu räumen. Wie vom bisherigen Redaktionsteam vorher angekündigt, leisteten diese keinen physischen Widerstand.
An Gegenaktionen beteiligten sich indessen andere Medien. Das von dem bisherigen NTW-Generaldirektor und -Starjournalisten Gennadi Kisseljow moderierte politische Wochenmagazin „Itogi“ wurde am Sonntagabend vom Schwesterkanal TNT ausgestrahlt, auch andere bisherige NTW-Programme fanden dort vorläufig Unterschlupf. TNT gehört noch dem NTW-Gründer Wladimir Gussinski, ist aber hoch verschuldet und hat eine sehr viel geringere geografische Reichweite. Gussinski hält sich momentan in Spanien auf. Dort wurde er nach einem Ersuchen der russischen Staatsanwaltschaft verhaftet, die ihn auf eine Gasprom-Klage hin der Unterschlagung verdächtigt. Die spanischen Sicherheitskräfte konnten sich allerdings nicht zu einer Auslieferung Gussinskis nach Russland entschließen und ließen ihn gegen Kaution vorläufig frei.
Unklar bleibt, wie viele bisherige NTW-Journalisten und -Mitarbeiter dem von Gasprom eingesetzten Generaldirektor, dem russischstämmigen US-Bürger Boris Jordan, ihre Mitarbeit verweigern. Während Jordan sagte, er habe seit Sonnabend nur 40 Rücktrittsgesuche erhalten, berichtete die zu Gussinskis Konzern gehörende Radiostation „Echo Moskwy“, dass ihm bereits 350 Leute die Mitarbeit versagt hätten, darunter 47, die bisher das „Gesicht“ des Senders repräsentierten.
Am vergangenen Wochenende nahm die neue Leitung nur eine einzige Programmänderung vor, sie setzte den wöchentlich ausgestrahlten Kommentar des Satirikers Wiktor Schenderowitsch ab. Es ist aber zu erwarten, dass die anderen Sendungen unter der neuen Führung inhaltlich ausbluten. So ist zum Beispiel die beliebte politische Puppenspielsendung „Kukly“ kaum ohne die Mitwirkung Schenderowitschs und seines bisherigen Teams vorstellbar.
Auch die führenden Sportkommentatoren des Kanals haben Jordan bereits ihre Mitarbeit verweigert. Ein weiteres Auffangnetz für das bisherige NTW-Team breitete der Oligarch Boris Beresowski aus, der sich plötzlich als Retter der russischen Pressefreiheit zu profilieren versucht. Er bot Vladimir Kisseljow an, den Posten des Generaldirektors seines Kanals TW6 zu übernehmen. Kisseljow sagte zu, aber nur „vorläufig“. Seine endgültige Entscheidung hänge davon ab, ob es möglich sei, unter Beresowski die Redaktionsfreiheit zu bewahren.
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