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„Das Herz des Konzeptes fehlt“

„Wir sollten einmal über den Opportunismus der Bauherren sprechen“

Moderation OLIVER G. HAMM

taz: Herr Schultes, nach sechs Jahren Planungs- und Bauzeit wird das Kanzleramt am 2. Mai von Bundeskanzler Gerhard Schröder bezogen. Ihre städtebauliche Idee war es, das Gebäude in ein „Band des Bundes“ mit einem öffentlichen Forum im Zentrum des Spreebogens einzufügen – das ist nur teilweise gelungen. Sind Sie gescheitert?

Axel Schultes: Das Konzept ist kaputt. Mir fällt dabei dieses sehr kluge Wort von Aldo Rossi ein, der sagte, wir könnten nur Fragmente liefern: Lebensfragmente, Geschichtsfragmente, in diesem Fall Spreebogenfragmente. Wir haben jetzt diese fragmentierte Situation, diese zerbrochene politarchitektonische Ikonografie mit den drei großen solitären Bauten im Spreebogen: das Kanzleramt, das Reichstagsgebäude und das Paul-Löbe-Haus. Gemeint war aber mit dem „Band des Bundes“ ein Kontinuum von Bau- und Raumkanten. Gemeint war das als eine Folie, vor der sich das Parlament im Reichstagsgebäude als einziger Solitär zeigen könnte.

Gelegentlich wird der Vorwurf erhoben, das Kanzleramt sei zu monumental. Sehen Sie das auch so?

Schultes: Dass man das Kanzleramt als solitären Baukörper, der er nie sein sollte, erlebt und dann automatisch die Randbauten, die städtebauliche Pflicht also, zur Kür des Zentralbaus dazuaddiert, das macht die Diskussion so schwierig. Der Vorwurf einer Überhöhung des 36 Meter hohen Leitungsgebäudes würde meines Erachtens aber sofort verschwinden, wenn das Forum verwirklicht würde. Das kann und wird noch geändert werden, da bin ich zuversichtlich. Doch es gibt auch andere Probleme, wie den schmerzlichen Verlust von Stadt und Raum an der Boulevardkante auf der Nordseite der Spree, die durch das Festhalten an der großen Figur des Lehrter Bahnhofs zerstört ist.

Peter Conradi: Wenn von der Höhe des Kanzleramtes die Rede ist, dann muss daran erinnert werden, dass am Lehrter Bahnhof Hochhäuser geplant sind, die höher sind. Wenn die je gebaut werden, wird die Relation zum Kanzleramt anders sein. Ich halte diese Höhendiskussion für unsinnig.

Wäre die „Spur des Bundes“ durch die nachträgliche Einfügung eines Forums noch zu retten?

Conradi: Ich bin sicher, wir werden für dieses heute leere Forum später noch eine bauliche Form und eine angemessene Nutzung finden, vielleicht die Ausstellung „Fragen an die deutsche Geschichte“. Jetzt wird das ein angenehmer Platz mit Wasser und Grün. Was Schultes zu Recht beklagt, die Nichterkennbarkeit vom „Band des Bundes“, wird etwas gemildert, wenn die Baumreihen nördlich und südlich des „Bandes“ eine nennenswerte Höhe erreicht haben.

Hat sich die Idee eines öffentlichen Forums nicht mittlerweile erledigt, weil viele der Funktionen, die ihm ursprünglich zugedacht waren, inzwischen an anderen Orten untergekommen sind – etwa die Parlamentarische Gesellschaft, die Parlamentsbibliothek oder auch der Presseclub? Sehen Sie tatsächlich noch eine reelle Chance für das Forum?

Schultes: Ja, die sehe ich. Ausgerechnet das Herz des Konzeptes aufgeben zu müssen, das ist nicht hinnehmbar. Die Ausstellung „Fragen an die deutsche Geschichte“ scheint mir ein Programm zu sein, das der Bedeutung des Ortes gerecht würde. Das Forum ist der präzise Schnittpunkt, in dem das „Band des Bundes“ einen Schlussstrich durch die von Hitler und Speer geplante große Nord-Süd-Achse zieht. Ich habe von Anfang an dieses Forum ganz anders gesehen als etwa den Platz der Republik vor dem Reichstagsgebäude. Das Forum ist ein sehr viel intimerer Raum, in dem der Bürger so etwas wie Hausrecht hat und sich nicht etwa nur als Zaungast dem Kanzleramt zuwendet.

Conradi: Apropos Zaungast: Ich sehe da schon Angela Merkel, die am Zaun rüttelt und ruft: „Ich will da rein!“

Schultes: Ich stelle mir den Souverän nicht als bloßen Zaungast eines Staatsempfangs vor. Ich will, dass er sich zurücklehnen kann bei einer Tasse Kaffee und beim beiläufigen Blick über seine Zeitung feststellt: „Kinder, guckt mal, dahinten der Bush und der Schröder.“

Aber die Frage bleibt, ob der Bundestag jetzt noch den Entschluss fassen wird, das Forum zu bauen.

Conradi: Dieser Bundestag bestimmt nicht mehr, aber es wird ja noch einen 15. und 16. Bundestag geben.

Das Kanzleramt hat im Laufe der sechsjährigen Planungs- und Bauzeit mehrfach Transformationen erlebt. Wenn Sie, Herr Schultes, heute den fast fertigen Bau kritisch betrachten: Haben Sie nicht das Gefühl, dass wesentliche Entwurfsideen des ursprünglichen Konzeptes auf der Strecke geblieben sind?

Schultes: Ja sicher, jede Menge Ideen sind auf der Strecke geblieben. Wobei immer die Frage lauten muss, ob nicht das Bessere des Guten Feind ist. Wir haben uns zu guter Letzt gegen die interessante Diagonale des Wettbewerbsentwurfs von 1993 entschieden, für ein eher lineares Konzept, das den Raum vom „Band des Bundes“, vom Forum durch Hof und Foyer zum Garten, wie einen großen ruhigen Fluss verarbeiten kann. Aber in einem ganz anderen Sinn erwischte uns das Projekt auf dem falschen Fuß: Die Intimität des Amtes und die raumprogrammatische Banalität eines Verwaltungsbaus geben keine zentrale Räumlichkeit her, die Ausgangspunkt eines architektonischen Konzepts sein können. Ein Plenum wie im Reichstagsgebäude – das gab es nicht. Ein Kanzlerarbeitszimmer, ein Kabinettsaal, die geben einen ordnungsstiftenden Ort eben nicht her. Aus dem Kanzleramt mussten wir also eine Aussage herauszwingen, die nicht im Räumlichen begründet ist.

Zumal es für die Bauaufgabe „Kanzleramt“ in Deutschland keinerlei ernst zu nehmendes Vorbild gibt – denn die viel gescholtene „rheinische Sparkasse“ in Bonn konnte ja kein Anknüpfungspunkt sein ...

Conradi: Es gab noch die bayerische Staatskanzlei, aber die ist nun wirklich ein schlechtes Beispiel.

Schultes: Wir haben das Bonner Kanzleramt gar nicht als ein so negatives Exempel genommen. Es ist halt ein unglaublich zurückhaltender Bau. Für uns war das aber kein Ausgangspunkt. Wir waren damals umgetrieben von der Bemerkung Adolf Arndts in seinem berühmten Aufsatz „Demokratie als Bauherr“, dass auch in der Architektur das Geheimnis umzusetzen wäre, dass individueller Geist kollektive Bewusstseinsinhalte auszudrücken vermag. Das geht aber nicht. Da ist der erweiterte Kunstbegriff schlichtweg überfordert. Das geht beim Holocaust nicht, und das geht eben auch mit einem formalen ästhetischen Begriff von Regieren nicht – den gibt es nicht. Damit kann ein Architekt nicht arbeiten.

Was blieb Ihnen also übrig?

Schultes: Was man als Architekt kann, ist ein Haus mit einem so individuellen Ausdruck auszustatten, dass es einem Volk über die Jahre die Chance gibt, sich darin wiederzuerkennen und nicht abgewiesen zu werden von der Anonymität der Lochfassaden und Glasraster. Was wir versucht haben, ist – sozusagen als Schmuggelware neben dem Programm –, Räume zu definieren, Orte, wo Menschen zusammenkommen.

Conradi: Ich bin, was Adolf Arndts Aussage betrifft, anderer Meinung als Herr Schultes. Architekten glauben immer, sie schaffen die Räume, die Formen aus sich selbst, und übersehen, dass sie eingebunden sind in die geistigen, kulturellen, politischen Strömungen ihrer Zeit. Arndt hat Recht: Die Bauten lassen etwas erkennen vom Geist der Epoche, in der sie entstehen. So gesehen verkörpert das Kanzleramt in Bonn bis heute den Geist der damaligen Zeit, eines bescheidenen, zurückhaltenden Neuanfangs, und so lässt der Bonner Plenarsaal von Günter Behnisch den Geist der späten Achtzigerjahre einer heiteren rheinischen Republik erkennen, der es eigentlich ganz gut geht. Auch Axel Schultes’ Kanzleramt ist keine platte Umsetzung irgendeines kollektiven Wertekanons der Architektur. Doch der Bau lässt sich schon heute als Ausdruck eines neuen, größeren Deutschlands verstehen.

... und auch eines selbstbewussteren Deutschlands ...

Conradi: Es ist ein selbstbewussteres Land, das noch seine Identität sucht, das sich in diesem Bau mit Fantasie, auch mit einem gewissen Pathos darstellt. Ich denke, Adolf Arndts Forderung, in der Demokratie müssten die Bauten erkennen lassen, was wichtig ist, was sie wert sind, ist beim Kanzleramt erfüllt.

Im Unterschied zu vielen anderen Regierungsbauten bedient sich das neue Kanzleramt nicht geliehener Würdeformen. Ist es aber nicht gerade der Versuch, dem Gebäude einen eigenen individuellen architektonischen Ausdruck zu geben, der viele Rezensenten zu zurückhaltenden oder gar ablehnenden Urteilen führt?

Schultes: Diesem Seriösitätsbedürfnis von Architektur und von Politik haben wir gar nicht erst abschwören müssen, weil das ohnehin nicht unser Denken ist. Für uns ist Raum, suggestive Räumlichkeit im schönsten Fall, Sinn und Quintessenz von Architektur. Von daher ist auch das Kanzleramt gedacht, als Bühne, Villa, Ruinenfeld, Labyrinth – was auch immer man im Kanzleramt sehen mag. Und daher kommt ja dieses breite Spektrum von Wohlwollen auf der einen und von harscher Kritik auf der anderen Seite. Das Bild ist nicht tradiert, es muss sich über die Zeiten in das kollektive Bewusstsein hineinfinden. Ob es dazu die Qualität hat, das muss sich zeigen.

Conradi: Das erfordert einen Aneignungsprozess. Ich habe das oft erlebt, zum Beispiel in meiner Heimatstadt Stuttgart bei Rolf Gutbrods Liederhalle und später bei James Stirlings Staatsgalerie. Ich habe es auch bei Behnischs Plenarsaal in Bonn erlebt, der ja anfangs von der Tagespresse niedergemacht wurde. Man muss den Menschen Zeit geben, solche außergewöhnlichen Gebäude zu verstehen.

Herr Schultes, würden Sie mir zustimmen, dass das Kanzleramt ein Armutszeugnis ist – für die deutsche Bauwirtschaft?

Schultes: Dass es nicht gelang, wie wir lange Jahre träumen durften, dass sich das Schwerste und das Leichteste wirklich hart im Raum treffen, also wirklicher Stein auch das Innere des Gebäudes ausmacht, das ist unser großer Frust. In dieser steinernen Konsistenz sollte der Ernst – nicht die Würde – eines solchen Ortes zum Ausdruck kommen. Doch leider haben die Baufirmen es nicht vermocht, eine ansehnliche Sichtbetonwand herzustellen.

„Es ist gedacht als Bühne, als Villa, als Ruinenfeld und auch als ein Labyrinth“

Conradi: Mir tut es Leid, dass Herr Schultes immer wieder von Frust spricht. Ich habe ähnliche Erfahrungen in der Politik gemacht: Man geht mit großen Zielen in ein Gesetzesvorhaben hinein und ist froh, wenn man die Hälfte verwirklichen kann. Ich glaube aber, dass Schultes und Frank viel mehr als die Hälfte von dem verwirklicht haben, was sie wollten. Es ist ja nicht so, dass auf dem Weg vom Traum zur Realisierung alles immer nur weniger wird, sondern in Teilen ist der Entwurf sicher auch besser geworden. Schultes und Frank sollten im Nachhinein ihre Arbeit als eine große Leistung verstehen.

Schultes: Ich bin froh über den Einspruch von Herrn Conradi. Es bremst ein bisschen meine offensichtlich angeborene Negativität oder einfach meine zu große Sehnsucht nach den ohnehin nur zwei, drei elementaren Räumen, die man in seinem Leben bauen kann. Wir werden mit Sicherheit eine solche Aufgabe kein zweites Mal gestellt bekommen.

Welche Rolle hat in diesem Zusammenhang der allzu niedrig angesetzte „Kostendeckel“ gespielt?

Conradi: Da sprechen Sie ein großes Ärgernis an. Wir sollten auch einmal über diesen gottverdammten Opportunismus der öffentlichen Bauherren reden, Projekte erst herunterzurechnen und später, wenn die tatsächlichen Kosten höher sind, den Architekten die Schuld zu geben. Leider machen die Architekten häufig mit – was haben sie auch für eine andere Wahl? Beim Kanzleramt gab es insgesamt sechs Kostenschätzungen, und dann haben Bundeskanzler Kohl und der Haushaltsausschuss gesagt, bei 400 Millionen Mark ist die Obergrenze. Der Architekt und Kohl-Vertraute Gustav Peichl und ich haben damals gesagt: „Ihr seid verrückt, dieses Kanzleramt von Schultes lässt sich nicht für 400 Millionen Mark bauen, da müsst ihr noch mal 50 oder 100 Millionen Mark drauftun.“ Doch weder Helmut Kohl noch der Haushaltsausschuss ließen sich überzeugen. Jetzt wird das Kanzleramt etwa 475 Millionen Mark kosten, wenn es gut geht. Die Mehrkosten machen die Öffentlichkeit wütend und die Presse schreibt, „die Architekten können nicht seriös planen“.

Schultes: Unsere erste Berechnung hatte 550 Millionen Mark ergeben. Wir haben dann freiwillig die Kosten ohne jede Reserve – und ein solches Haus ohne Reserve zu planen ist heller Wahnsinn – auf 440 Millionen Mark heruntergerechnet. Das war unsere tiefste, nicht gepresste Messlatte ...

Conradi: ... und dann wurden Sie auf 400 Millionen Mark gedeckelt.

Schultes: Ja, und dann geht das Bauen erst einmal los und man weiß, es wird Ärger geben. Wir haben es in Bonn erlebt, dass daran sogar Lebensläufe kaputtgehen können. Da hat im Hochbauamt jemand für das Kunstmuseum Baukosten von 50 Millionen Mark in den Stadtrat hineingereicht und am Ende kostete es 100 Millionen, was alle von Anfang an wussten. Dann wird nach Schuldigen gesucht, und das sind natürlich diejenigen, die an irgendeiner Stelle für das verwaltungstechnisch Formale den Kopf hinhalten mussten.

Sind vor diesem Hintergrund und angesichts der leeren öffentlichen Kassen solche ambitionierten Projekte wie das Kanzleramt, mit dem hohen Anspruch an handwerkliche Qualität, wie er Ihnen vorschwebt, in Deutschland überhaupt noch realisierbar?

Schultes: Ich muss dazu sagen, dass wir überhaupt keine Materialfetischisten sind. Das Simpelste, was manchmal natürlich etwas kostet, ist uns gerade gut genug. Das Kanzleramt war aus Buchenfurnier und aus weißem Sichtbeton geplant. Es war mit Auslegware und einem Serpentino Italiano schon zu Ende gedacht. Wenn man das nicht mehr realisieren kann, wenn nach einer weiteren Kostenreduzierung wenigstens der Weißbeton im Außenbereich bis in die Fassaden hinein Verwendung finden soll, stattdessen aber, wegen einer halben Million Mark Einsparung hier und einer zweiten halben Million Mark dort, Graubeton verwendet wird und gestrichen werden muss, wie man normalerweise irgendeinen U-Bahn-Tunnel behandelt, dann halten wir das tatsächlich für etwas, was der Altkanzler noch als „Visitenkarte der Republik“ bezeichnet hatte, für unanständig. Dann ist da eben eine Unwucht im Projekt, in der architektonischen Kultur des Landes, der öffentlichen Hände, wie Sie wollen.

Conradi: Das Problem liegt darin, dass der öffentliche Bauherr, in diesem Fall das Parlament, einen Planungsbeschluss nur fällt, wenn schon eine Kostenschätzung vorliegt. Das bedeutet, dass zu einem frühen Zeitpunkt, wenn noch nicht einmal das Bauprogramm festliegt, genau gesagt werden soll, was der Bau kosten wird. Würde man zur Zeit der Kostenschätzung einen Kostenrahmen bestimmen, würde der öffentliche Bauherr nicht immer nur nach dem billigsten Angebot fragen, sondern die Preise daraufhin prüfen lassen, ob sie realistisch sind, dann sähe es anders aus. Es ist doch absurd, einem Bauunternehmer einen Auftrag zu geben, wenn man weiß, er kann ihn zu dem angebotenen Preis nicht bewältigen. Das ist so, wie wenn man erwartet, hochwertiges Rindfleisch für 10 Mark pro Kilo zu bekommen. Der Bundeskanzler hat ja selbst gesagt, man müsse für gute Ernährung ein bisschen mehr ausgeben, man könne nicht erwarten, dass das für den niedrigsten Preis zu haben sei. Ganz genauso gilt das auch fürs Bauen.

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