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Der Gentleman will nur noch heim

von RALF SOTSCHECK

Ronnie Biggs, Englands verlorener Sohn, kehrt heute in sein Heimatland zurück. 35 Jahre war der berühmte Postzugräuber unterwegs, auf der Flucht durch die ganze Welt, jetzt ist er schwer krank und will nach Hause: „Mein letzter Wunsch ist es, als Engländer in einen Pub in Margate zu spazieren und ein Glas Bitter zu kaufen“, schrieb er vor seiner Abreise aus Rio de Janeiro auf einen Zettel. Nach drei Schlaganfällen kann er nicht mehr sprechen.

Erfüllt ihm das Mutterland diesen Wunsch? Fraglich. Der 71-jährige Biggs hat noch 29 Jahre seiner Haftstrafe abzusitzen, und wenn es nach den Tories geht, muss er das auch. Die Tories zeigen kein Mitleid. Denn Biggs hat sich – eigenen Aussagen nach – in Brasilien als Playboy prima amüsiert, zügellos gelebt also wie der verlorene Sohn des Lukas-Evangeliums. Da kommt Neid auf.

Die Mehrheit der Engländer würde Biggs jedoch mit offenen Armen empfangen. Das hat eine Umfrage der Sun ergeben, die für Biggs die Rückkehr organisiert und einen Exklusivvertrag mit ihm abgeschlossen hat. Die Wirte in Margate haben ihm allesamt Freibier versprochen, erhoffen sie sich von der Anwesenheit des legendären Zugräubers doch eine ähnliche Anziehungskraft, wie Biggs sie in Rio hatte. 1963, als Biggs zum letzten Mal Margate besuchte, war der südenglische Badeort ein beliebtes Ausflugsziel für Londoner. Heute ist es heruntergekommen, der Strand verlassen, der Pier seit 1978 vom Sturm zerstört. Und das Bitter, Biggs’ Lieblingsbier, kostet zwanzig Mal mehr als 1963. Das kann er sich kaum leisten, denn die Beute aus dem Zugraub ist längst aufgebraucht. Zuletzt lebte er davon, sich mit Touristen gegen eine Spende fotografieren zu lassen und ihnen die Geschichte des Überfalls zu erzählen.

Damals, am 8. August 1963, Biggs 34. Geburtstag, überfielen 16 Männer den Postzug, der von Glasgow nach London unterwegs war. Biggs durfte nur deshalb mitmachen, weil er mit dem Kopf der Bande, Bruce Reynolds, befreundet war. Sie erbeuteten mehr als 2,6 Millionen Pfund – nach heutigem Geld wären das rund 110 Millionen Mark.

Der Plan war genial und er konnte minutiös ausgeführt werden, weil die Züge damals noch pünktlich waren. Die Bewunderung für die dreiste Tat war in den Medien und bei der Bevölkerung recht unverhohlen, obwohl die Gangster den Lokomotivführer Jack Mills niedergeschlagen und schwer verletzt hatten. Er starb sechs Jahre später an einer Lungenentzündung, und sein Sohn John Mills macht die Zugräuber noch heute für den Tod seines Vaters verantwortlich.

Doch die Engländer, jedenfalls die Mehrheit, waren damals fast enttäuscht, dass die Gangster trotz der intelligenten Planung des Raubes so schnell gefasst wurden, der erste bereits sechs Tage nach der Tat. Biggs, der schon mit 15 Jahren vor Gericht stand, weil er Bleistifte in einem Supermarkt gestohlen hatte, wurde am 4. September verhaftet. Dass die Posträuber bei der Bevölkerung beliebt waren, ja sogar bewundert wurden, schadete ihnen vor Gericht: Um Nachahmungstäter abzuschrecken, wurden sie zu 30 Jahren Haft verurteilt. Solch hohe Strafen bekamen damals nicht mal Mörder.

Für die Verurteilten war es das gleiche wie lebenslänglich, und so schmiedeten sie Fluchtpläne. Charlie Wilson war der erste, der im August 1964 entkam. Bei Biggs dauerte es ein Jahr länger. Er hatte 15 Monate abgesessen, als er auf die Mauer des Wandsworth-Gefängnisses in London kletterte und in einen offenen Möbelwagen hinuntersprang.

Nach seiner Flucht war Biggs endgültig zur Legende geworden, und nicht nur in England: Im deutschen Fernsehen lief Ende der Sechziger ein mehrteiliger Film mit Horst Tappert in einer der Hauptrollen, bevor er die Seiten wechselte und zu Derrick wurde. Man zitterte damals als Zuschauer mit den Zugräubern und empfand es als Happy End, weil sie zum Schluss der Miniserie aus dem Gefängnis entkamen. Schon der Titel machte die Räuber sympathisch: „Die Gentlemen bitten zur Kasse.“

Während man Biggs in seiner Heimat als Sohn der Nation adoptierte, wurde ein anderer zum Volkstrottel: Detective Chief Superintendent Jack Slipper, der Biggs durch die ganze Welt gejagt hatte, erst nach Paris, dann nach Australien, wo Biggs’ Exfrau und die drei Söhne heute noch leben, und schließlich nach Brasilien. 1974 stand er bei ihm in Rio vor der Tür: „Lange nicht gesehen, Ron“, sagte Slipper. „Ich nehme an, du weißt, wer ich bin.“ Aber auch dieser Versuch, Biggs wieder ins Gefängnis zu bringen, schlug fehl: Weil seine brasilianische Freundin schwanger war, wurde Biggs nicht ausgeliefert. Auch als er 1981 entführt und nach Barbados verschleppt wurde, wo man ihn in die Todeszelle steckte, wurde er nicht nach England ausgeliefert, sondern nach Rio zurückgeschickt. In England galt er bis jetzt als ewiger Sieger.

Jack Slipper, inzwischen pensioniert, flog vor acht Jahren noch einmal nach Rio, um Biggs zu besuchen. Er habe ihn gefragt, ob Verbrechen sich auszahlen, sagt Slipper. „Nein“, antwortete Biggs. „Ich habe meine Familie und mein Zuhause verlassen müssen, ich habe nichts mehr.“ Das ist auch der Grund, warum Biggs heim will. Er ist pleite, er ist krank, und die Gesundheitsfürsorge ist in Brasilien nicht – wie in England – kostenlos.

So kehrt er heute nicht als Held zurück, sondern als demütiger Bettler, der um Verständnis fleht und angewiesen ist auf das Mitleid des Staats, dem er einst eine lange Nase gedreht hat. Freudenfeste kann er jedenfalls nicht erwarten.

Einer aber sieht geradezu alttestamentarische Gerechtigkeit am Werk: Jack Slipper. Der bisher so glücklose Expolizist sagt: „Die Sache hat mein Leben bestimmt, Ronnie hat mich berühmt gemacht. Ich bin älter als Ronnie. Es wäre mir eine große Befriedigung, wenn ich ihn überleben würde, um zu beweisen, dass meine Lebensweise am Ende besser war als seine.“

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