: Gegen „Mentalität der Auslese“
Verfassungsgerichtspräsidentin Limbach: Es gibt noch keine ausreichenden Grundlagen für Entscheidungen zur Gentechnik. Status von extrakorporal erzeugten Embryos sei unklar. Folgenabwägung sei wichtig. Medizinerkongress in Erlangen
von BERND SIEGLER
„Die Zeit für eine autoritative Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVG) in Fragen der modernen Biotechnologie ist noch nicht reif.“ So warnte Jutta Limbach, Präsidentin des BVG, auf dem Internationalen Kongress „Medizin und Gewissen“ vor einer vorschnellen Einschaltung des Karlsruher Gerichts in Fragen der Gentechnik.
Zuerst müsste eine breite Debatte in der Gesellschaft über Präimplantationsdiagnostik (PID) und embryonale Stammzellenforschung geführt werden, so Limbach. „Die Stützkräfte des säkularisierten Staates, Ethik, Moral und Religion“ müssten Stellung bezogen haben. „Ich wage nicht vorauszusagen, wie das Gericht dann entscheiden wird“, betont Limbach.
Eine Woche, nachdem Bundespräsident Johannes Rau enge Grenzen für die Gentechnik gefordert hatte, einen Tag nach dem Beschluss des deutschen Ärztetags gegen die Stammzellenforschung und eine Woche vor der entsprechenden Debatte im Bundestag stand die Eröffnung des Medizinethik-Kongresses ganz im Zeichen der aktuellen Auseinandersetzung um die Biotechnologie. Unter dem Motto „Medizin und Gewissen – wenn Würde ein Wert würde“ diskutieren in Erlangen bis Sonntag rund 1.300 Ärzte und Angehörige medizinischer Berufe über Menschenrechte, Technologiefolgen und Gesundheitspolitik. Veranstalter des Kongresses ist die Deutsche Sektion der IPPNW, der „Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung“.
Deren Ehrenpräsident, der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter, forderte in der Diskussion um PID und Stammzellenforschung mehr Raum für „Bedenken, Gewissen und mitmenschliche Nähe“. Manche, die mit chronischen oder erblich bedingten Mängeln leben, machten sich schon jetzt Gedanken darüber, „ob man in ihnen nicht bereits die Träger eines leider heute noch nicht, aber hoffentlich bald verhinderbaren Lebens erblickt“. Richter mahnte vor allem Transparenz in der Forschung und eine intensive Aufklärung der Bevölkerung an.
Das fordert auch Jutta Limbach für sich und ihre Richterkollegen ein. Sie kündigte an, dass das BVG „keine der Fragen ohne mündliche Verhandlung mit Anhörung aller relevanter Positionen entscheiden“ werde.
Die BVG-Präsidentin machte unmissverständlich klar, dass sich das Gericht mit einer Entscheidung über Stammzellenforschung und PID in jedem Fall auf Neuland begibt. Das Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Menschenwürde sei zwar das „tragende Konstitutionsprinzip der Grundrechte“, aber keine der beiden Entscheidungen zum Paragrafen 218 aus den Jahren 1975 und 1993 gestatteten eine Aussage darüber, wie das BVG „den Grundrechtsstatus eines in vitro gezeugten Embryos beurteilen“ werde. Beide Entscheidungen hätten sich auf die „Zeugung herkömmlicher Art“ bezogen.
„Bei der Antwort auf die Frage nach dem Würdeschutz extrakorporal erzeugter Embryos geht es nicht um einen Akt schlichter Rechtserkenntnis“, betonte Limbach. Wenn der Text des Grundgesetzes keine Entscheidung vorgibt, müssten die Juristen „zur Folgenabwägung greifen“. Hier spielt für die BVG-Präsidentin die so genannte Dammbruchtheorie eine große Rolle, wonach „die Grenzen zwischen Genanalyse, -therapie, -manipulation und positiver Zuchtwahl fließend“ seien.
Als wichtige Argumente zur Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der Humangenetik nannte Limbach neue Entscheidungszwänge für Schwangere sowie die Sorge, dass sich „eine Mentalität der Auslese durchsetzen“ könnte.
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