: Neuer Mythos Neutralität
Israels Premierminister Scharon kommt nach Berlin. Neuerdings fordern auch Linke, im Nahostkonflikt keine Stellung zu beziehen. Das geht auf Kosten der Menschenrechte
„Die Wahrheit ist, dass unsere Herrschaft über Judäa, Samaria und Gaza auf Gewalt beruht.“ Abba Eban, früherer Außenminister Israels, im Januar 1980 in der Zeitschrift New Outlook
Ein Premierminister auf Reisen bekommt in der Regel nicht viel Papier zu sehen. Das gilt auch für den israelischen Regierungschef Ariel Scharon, wenn er an diesem Donnerstag in Berlin zu einer Stippvisite eintrifft. Er wird mit dem Kanzler und dessen Außenminister über die verfahrene Lage in Nahost diskutieren. Dabei wäre Scharon die Lektüre einer Erklärung zu gönnen, die der „Bundesausschuss Friedensrat“ zum Nahostkonflikt verabschiedet hat.
Denn Scharon fände an einigen der 17 Thesen, die dieses Gremium der Friedensbewegung aufgestellt hat, Gefallen. Die Forderung, den Ausbau der Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten zu stoppen, dürfte dem Staatsgast zwar aufstoßen. Aber nur ganz kurz. Schließlich wird mit dem Papier vom 8. Juni Enthaltsamkeit gefordert: „Die Bundesregierung und die Europäische Union können diesen Prozess am besten dadurch unterstützen, dass sie sich in diesem Konflikt politisch neutral verhalten und sich für die ökonomische Entwicklung und soziale Wohlfahrt in der Region engagieren.“ Weiter schreiben die Friedensfreunde: „Jegliche Form der Vorverurteilung einer der beiden Seiten lehnen wir ab, jede Form von Antisemitismus und Antiarabismus bekämpfen wir.“ Und alle Versuche von außen, den Konflikt zu instrumentalisieren, verwerfen sie als unzulässige Einmischung.
Liest sich löblich, ist es aber nicht. Mit den Aussagen wird suggeriert, die Auseinandersetzung zwischen Israelis und Palästinenser verlaufe auf gemeinsamer „Augenhöhe“, als seien beide Konfliktparteien gleichberechtigt. Ein Bild, das sich in der öffentlichen Wahrnehmung und den politischen Diskussionen festgesetzt hat: Israelis und Palästinenser werden als beinahe ebenbürtige Partner dargestellt. Die blutigen Auseinandersetzungen mit Uniformierten auf beiden Seiten geraten zur Konfrontation zweier souveräner Armeen.
Dennoch stimmt dieses Bild nicht. Palästina ist ökonomisch nahezu vollständig von Israel abhängig, und die überwiegende Mehrheit der Palästinenser ist seit der Unterzeichnung der Friedensverträge von Oslo weitaus schlechter gestellt als zuvor. Daran sind perfiderweise die Bestimmungen über die Autonomiegebiete schuld. Denn seit die Al-Aksa-Intifada begonnen hat, werden auch die unterschiedlichen Sicherheitszonen in den besetzten Gebieten abgeriegelt. Das be- oder verhindert innerhalb des ganzen Westjordanlandes den Weg der Menschen zu ihrer Arbeit und den regionalen Warenverkehr. Damit ist die palästinensische Wirtschaft praktisch zum Erliegen gekommen. Ohnehin haben die Einreiseverbote in das israelische Kernland weit über 100.000 Palästinenser ihre dortigen Arbeitplätze gekostet. Erinnert sei auch daran, dass Israel seinen stufenweisen Rückzug aus den besetzten Gebieten verschleppt hat, und zwar nicht nur unter dem als Scharfmacher berüchtigten Premier Benjamin Netanjahu, sondern auch unter dessen als „gemäßigt“ geltendem Nachfolger Ehud Barak. Die Terroranschläge in Israel boten den beiden Politikern dazu willkommene Anlässe. Und die Vereinbarung, den Siedlungsbau zu stoppen, setzte die israelische Regierung nicht nur nicht um, sondern verkehrte sie in ihr Gegenteil: eine Siedlungsoffensive. Eine Politik der Härte, die bei den Bewohnern der betroffenen Ortschaften Verbitterung, Wut und Gewalt hervorruft. Der Geschichtsprofessor Moshe Zuckermann aus Tel Aviv schrieb dazu: „Im Verhältnis zu Palästina präsentiert sich Israel als ein Land brutaler Repression und Unterdrückung – wenn nicht in den letzten 50 Jahren, so doch zumindest in den letzten 33 Jahren.“ Mit anderen Worten: seit der Besetzung des Westjordanlandes im Sommer 1968. Und diese Okkupation ist heute noch der Kern des Konfliktes.
Bei einer solchen Ausgangslage verträgt sich der Aufruf aus Frankfurt am Main, im Konflikt neutral zu bleiben, kein bisschen mit dem Anspruch an eine Außenpolitik, sich an den Menschenrechten zu orientieren. Soll man schweigen, wenn Israels Militär einfach Mitglieder von Jassir Arafats Bewegung Fatah ermordet, weil es in ihnen die Hintermänner von Anschlägen gegen Israelis vermutet? Darf man neutral bleiben, wenn die Bevölkerung im Gaza-Streifen und Westjordanland nach Anschlägen islamistischer Gruppen in Kollektivhaftung genommen wird? Wenn nach vereinzelten Schusswechseln als Vergeltung Olivenplantagen und Wohnanlagen eingerissen werden? In der arabischen Welt treibt zwar die antiisraelische und antisemitische Rhetorik neue Blüten. Und bei den Palästinensern überlagert ein abstoßender Märtyrerkult die spärlichen Aufrufe zu einem Gewaltverzicht. Der Terror, den palästinensische Gruppen gegen Israelis verüben, ist nicht zu beschönigen oder als „Befreiungskampf“ zu glorifizieren. Und trotzdem: Es ist der hochgerüstete israelische Staat, der Panzer, Hubschrauber und Kampfflugzeuge gegen palästinensische Ziele einsetzt, selbstgerecht und, was die militärischen Operationen angeht, jenseits allen Friedenswillens.
Mehr Realitätssinn legen da schon die führenden deutschen Friedensforschungsinstitute an den Tag. In ihrem jüngst vorgelegten Friedensgutachten 2001 forderten sie wirtschaftliche Sanktionen gegen Israel. Zwar könne eine Friedensbereitschaft von außen nicht erzwungen werden. Da Israel aber rund 40 Prozent seines Außenhandels mit der Europäischen Union abwickle, sei es nicht immun gegen wirtschaftlichen Druck. „Die historische Schuld, die das deutsche Volk sich gegenüber den Juden aufgeladen hat, macht Sanktionen gegenüber Israel zu einem heiklen Thema. Aber letztlich gründet auch das Unrecht, das den Palästinensern widerfährt, im Zivilisationsbruch von Auschwitz“, notieren die Autoren. Druck auf Israel auszuüben, damit es wieder vom Kriegs- auf den Friedenskurs umschwenkt, dürfe deshalb kein Tabu sein. Ein Ende der israelischen Landnahne in den palästinensischen Gebieten „würde ein zentrales Hindernis für die Zivilisierung der Konfliktaustragung beseitigen“. Ein Vorschlag der Friedensforscher: Solange Israel seine Siedlungsaktivitäten fortsetzt, sollten die Handelsvorteile gestrichen werden, die Israel aus seinem Assoziationsabkommen mit der EU erhält.
Doch von solchen Maßnahmen dürfte beim Treffen der Bundesregierung mit dem Staatsgast aus Jerusalem keine Rede sein. Die Berliner Regierung verschanzt sich hinter dem Argument, eine Verurteilung nutze nichts, man müsse mit beiden Seiten im Gespräch bleiben. Was aber – und gegenwärtig scheint einiges dafür zu sprechen –, wenn es am Ende zwischen Palästinensern und Israelis nichts mehr zu besprechen gibt? Dann fordert die Neutralität einen hohen Preis – für alle Beteiligten. Selbst für die neutral gebliebenen Friedensfreunde.
WOLFGANG GAST
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