: SED-Bonzen dürfen sich freuen
Sollte das Urteil über die Stasi-Akten von Exkanzler Kohl Bestand haben, dürften auch hochrangige SED-Funktionäre die Gerichte anrufen
von WOLFGANG GAST
Mit seinem Urteil über die Stasi-Akten von Exkanzler Helmut Kohl fegte am Mittwochabend das Berliner Verwaltungsgericht die seit zehn Jahren gepflegte Praxis der Stasi-Nachlass-Verwalter vom Tisch.
Hunderte von Anträgen haben die Mitarbeiter der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, seit der Verabschiedung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes bearbeitet, in denen Historiker und Journalisten Einsicht in den Stasi-Nachlass begehrten. Manches wurde in der Folge zutage gefördert, was Politikern, Unternehmern oder Kirchenvertretern im Westen höchst unangenehm aufstieß. Aufgedeckt wurde etwa der kurze Draht zwischen dem bayerischen Ministerpräsidenten Strauß und dem DDR-Chefdevisenbeschaffer Schalck-Golodkowski. Redakteure der Hamburger Zeit mussten sich vorwerfen lassen, demütig vor den Potentaten der DDR gekuscht zu haben. Nicht wenige westdeutsche Firmen sahen sich dem Vorwurf ausgesetzt, High-Tech-Produkte illegal in die ehemalige DDR geliefert zu haben.
Alles Geschichte? Wiederholung ausgeschlossen? Sollte das Urteil der 1. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin in den weiteren Instanzen bestätigt werden – dann ja. Und nicht nur das: Auch hochrangige SED-Funktionäre können in diesem Fall mit Berufung auf ihr Persönlichkeitsrecht eine Herausgabe der sie betreffenden Stasi-Akten unterbinden.
Kohl hat sich durchgesetzt. Er dürfe verlangen, referierte Richter Volker Markworth, dass keine „personenbezogenen Daten, die über ihn gesammelt wurden und die nicht ausschließlich das (ohnehin bekannte) öffentliche Wirken betreffen, ohne seine Einwilligung veröffentlicht werden“. Der Opferschutz stehe über dem Interesse der Öffentlichkeit, so Markworth. Dass der Zugang zu Informationen über Personen der Zeitgeschichte für Forschung und Medien somit in einem erheblichen Umfang ausgeschlossen sei, müsse hingenommen werden, solange der Gesetzgeber keine andere Regelung treffe.
Marianne Birthler sprach gestern von einem schweren Rückschlag: „Die Gerichtsentscheidung widerspricht sämtlichen einschlägigen Kommentaren zum Stasi-Unterlagen-Gesetz, der seit zehn Jahren unangefochtenen Praxis der Aktenherausgabe und der ursprünglichen Intention des Gesetzgebers.“ Nach dem Kohl-Urteil vom Mittwoch dürften weitere Betroffene die Gerichte anrufen (s. Interview).
Die Bundesbeauftragte wird Rechtsmittel einlegen. Der genaue Gang, ob Revision vor dem Oberverwaltungsgericht, Sprungrevision beim Bundesgerichtshof oder nur Berufung in gleicher Instanz, wird noch diskutiert. Unklar ist auch, ob der von Richter Markworth ins Spiel gebrachte Verweis auf den Gesetzgeber hilft. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung um die Kohl-Unterlagen hatte nicht nur Innenminister Schily (SPD) eine restriktive Regelung zur Freigabe von Stasi-Akten gefordert. Als sich Birthler widersetzte, diskutierten Mitglieder des Innenausschusses eine Gesetzesänderung. Weil die Bundesbeauftragte mit einer neuen Richtlinie den Bedenken entgegenkam, wurde die Absicht fallen gelassen. Ein neues Gesetz dürfte nach den Debatten der letzten Monate eher zu einem erschwerten Aktenzugang führen.
So unterschiedlich die Meinungen vor dem Prozess waren, so geteilt waren gestern die Reaktionen auf das Urteil. Otto Schily freute sich, der SPD-Innenexperte Dieter Wiefelspütz nannte den Spruch „zwingend richtig“. Birthlers Absicht, das Urteil anzufechten, unterstützt er. Es sei damit zu rechnen, dass das Bundesverfassungsgericht den Fall entscheiden werde: „Dies ist eine große Chance, uns über unsere Maßstäbe im demokratischen Rechtsstaat zu versichern.“ Günter Nooke, Fraktionsvize der Union, kritisierte die Gerichtsentscheidung als „Widerspruch zur zehnjährigen Praxis der Behörde“. Sollte das Urteil Bestand haben, wird nach seiner Einschätzung ein großer Teil der Gauck-Behörde überflüssig.
PDS-Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch meinte: „Dem Rechtsempfinden der Ostdeutschen tut ein solches Urteil nicht gut.“ Der innenpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Cem Özdemir, sagte: „Es muss ernsthaft geprüft werden, ob das Gesetz der bisherigen Praxis der Behörde angepasst werden muss.“
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