: Straßensperre für Kinder
Vom Ausgehverbot nach 23 Uhr erhofft sich Serge Grouard, Bürgermeister von Orléans, mehr „Schutz“ für Minderjährige
aus Paris DOROTHEA HAHN
Kinder, die das Pech haben, in den drei berüchtigten Quartieren von Orléans – Argonnes, Source und Blossières – aufzuwachsen, erleben in diesem Sommer eine zusätzliche Schikane. Zwischen 23 und 6 Uhr gilt für sie ab sofort eine Ausgangssperre. Polizisten, die nachts unbegleitete Kinder unter 13 Jahren auf der Straße aufgreifen, dürfen und sollen sie entweder auf die Wache bringen oder zu Hause abliefern. Die Eltern der Kinder können zur Kasse gebeten werden, Strafe: 230 Franc, etwa 70 Mark.
So hat es der neue Bürgermeister von Orléans, Serge Grouard (42), ein Mann aus dem Umfeld von Staatspräsident Jacques Chirac, per Erlass verfügt. Sein Verbot gilt zunächst nur für diesen Sommer und nur für die drei Stadtteile. In der Innenstadt von Orléans, wo die Prostitution von meist ausländischen Minderjährigen und der Drogenhandel florieren, und in den bürgerlichen Wohngebieten, wo viele Familien in die Sommerferien verreist sind, gilt er nicht.
Grouard sagt, er wolle die Kinder schützen, sie dem „Einfluss der Straße“ und „gefährlicher Delinquenten“ entziehen, sie ihren Eltern zurückgeben. Und er argumentiert mit der gestiegenen Kriminalität in seiner Stadt, spricht von einer Zunahme von 40 Prozent bei Straftaten in den letzten Jahren. Die Polizei hat für denselben Zeitraum lediglich 12 Prozent erfasst. Unbestritten ist, dass die Zahl der minderjährigen Straffälligen tatsächlich stark angestiegen ist, in Orléans wie in ganz Frankreich. Allerdings belegen die Statistiken nicht, dass die Kriminalität in den Banlieues besonders zunimmt. Im Gegenteil zeigen sie eine starke Zunahme von Diebstählen und Einbrüchen in den Innenstädten. Die Statistiken sagen auch nichts über das exakte Alter der jugendlichen Straftäter. Die Polizei hält Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren für besonders gefährdet.
Ein populäres Thema
Der Neogaullist Grouard ist keineswegs der erste französische Politiker, der eine Ausgangssperre für Kinder nach dem Vorbild etwa Großbritanniens (siehe rechts) fordert. Aber er ist der erste, der sie durchsetzt. Nachdem in den Vorjahren die Gerichte derartige Ansinnen systematisch abgelehnt haben, bewilligte am Montag der Staatsrat, die oberste Instanz der französischen Verwaltungsjustiz, den Erlass von Orléans. Ermuntert von dem Erfolg ihres Kollegen erwarten nun zahlreiche andere rechte Bürgermeister im Land grünes Licht der Justiz für ihre Erlasse. Die Beispiele reichen von Nizza über Cannes bis in die Banlieue von Paris.
Denn das Thema ist populär. In Orléans haben die Sozialdemokraten in diesem Frühjahr die Kommunalwahlen verloren, weil Grouard härtere Maßnahmen zum Schutz der Bürger vorschlug. Bei den Wahlen zu Präsidentschaft und Parlament im nächsten Jahr wird die Sache wieder im Vordergrund stehen. Alle Parteien der Mitte versprechen Maßnahmen zum Schutz der Bürger. Unterschiede gibt es nur bei der Wahl der Mittel. Die Vorschläge reichen von einer Aufstockung der Polizeitruppen über ein schärferes Vorgehen der Justiz bis hin zu dem Entzug des Erziehungsgeldes, wenn das Versagen der Eltern durch die Straffälligkeit ihrer minderjährigen Kinder manifest wird.
In Frankreich ist niemand der Ansicht, dass Kinder unter 13 Jahren nachts auf die Straße gehören. Dennoch geht angesichts des Erlasses von Orléans jetzt ein Sturm der Entrüstung durch das Land. Die Menschenrechtsliga hält den Erlass für einen „schweren Angriff auf das in der Verfassung garantierte Recht auf Bewegungsfreiheit“ sowie eine diskriminierende Maßnahme, die die betroffenen Jugendlichen und Quartiere noch weiter stigmatisieren würde. Die Vereinigung von Jugend- und Sozialzentren (ASELQO) macht geltend, dass die drei Quartiere hauptsächlich von Immigrantenfamilien bewohnt seien, die nicht nur kleine Wohnungen hätten, sondern bei denen das Leben auf der Straße auch eine „kulturelle Gewohnheit“ sei. Und Pädagogen aus den betroffenen Quartieren von Orléans weisen darauf hin, dass eine personelle Verstärkung ihrer Arbeit sinnvoller wäre als ein Ausgehverbot.
Der sozialdemokratische Urbanismus-Minister Claude Bartolone findet den Begriff „Ausgangssperre“ unerträglich. „In Frankreich“, sagt er, „befinden wir uns nicht im Krieg gegen die Kinder. Wir müssen den Eltern helfen, zu ihrer Autorität zurückzufinden.“ Deshalb hat sein Ministerium in diesem Sommer 13.000 Projekte für insgesamt 800.000 benachteiligte Jugendliche im Land organisiert. Sie reichen von Sport über Kultur bis zu Stadtteilverschönerungen.
Der Graben zwischen Gegnern und Befürwortern des Erlasses von Orléans geht quer durch die politischen Lager. Die neogaullistische RPR verspricht ihren Landsleuten, die nächtlichen Ausgehverbote für Kinder auf das ganze Land auszudehnen. Die ebenfalls rechtslastige Vereinigung der französischen Bürgermeister lobt zwar den Erlass von Orléans, verlangt jedoch zusätzlich eine „bessere Zusammenarbeit mit den Eltern“. Und die sozialdemokratische Familienministerin Ségolène Royal widerspricht ihrem Kollegen Bartolone, indem sie den Erlass von Orléans mit den Worten „Warum nicht?“ kommentiert.
Der Staat auf dem Rückzug
In den französischen Banlieues, die in den 60er- und 70er-Jahren gebaut wurden, um die Wellen von Rückkehrern und Einwanderern aus den ehemaligen Kolonien aufzunehmen, ist heute das ganze Elend Frankreichs konzentriert. Armut und Arbeitslosigkeit häufen sich, und es wuchert, was die Soziologen schamhaft „parallele Ökonomien“ nennen – der Handel mit Drogen und Hehlerei. Nicht nur manche Eltern, sondern auch der französische Staat befinden sich vielerorts auf dem Rückzug. Davon zeugen verwahrloste Grünanlagen, geschlossene Kultur- und Jugendzentren und die immer häufigere Abwesenheit der Polizei.
In den berüchtigten Quartieren Argonnes, Source und Blossières verstehen viele Jugendliche die nächtliche Ausgangssperre als Provokation. Es ist nicht ausgeschlosssen, daß sie ihrem Bürgermeister und seinen durch die Urlaubszeit dezimierten Polizeitruppen in den nächsten Wochen ein spannendes Katz-und-Maus-Spiel liefern.
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