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Nur die Jungfrau bietet Schutz

Überall liegt Müll im Sand. Trotzdem ist der Cañón de los Muertos eine Art Refugium für die Migranten: mit einem Altar, mit Schlafplätzen und Kochstelle

aus dem Cañón de los MuertosTOM WETZLING

Carlos Castillo Cordova seufzt, das kleine weiße Kreuz an der Halzkette baumelt hin und her. Drei Mal hat der Mexikaner versucht die Grenze zu überqueren, drei Mal wurde er geschnappt. „Ich will nicht mehr rüber“, sagt er. „Ich habe keine Lust mehr auf den ganzen Mist.“

Es wird Abend im Cañón de los Muertos, dem Tal der Toten, eine halbe Autostunde westlich der mexikanischen Grenzstadt Tijuana. Von oben, von der Schnellstraße aus, blickt man in Richtung San Diego und Pazifik, in der Ferne flackern die Lichter von Imperial Beach, dem ersten Ort auf der kalifornischen Seite.

Vier Jahre schon ist Carlos Castillo, der ehemalige Verkaufsmanager einer Baufirma, arbeitslos. Auf der anderen Seite der Grenze wollte er ein paar Dollar verdienen. „Ich hätte jede Arbeit angenommen“, sagt der 53-Jährige, „in Mexiko habe ich einfach keine Chance mehr.“ Aber seinen Traum von den USA hat er aufgegeben. Keine Lust mehr hat er auf schlaflose Nächte im Tal und US-amerikanische Patrouillen vor seiner Nase. Er will zurück zu seiner Frau und seinen Kindern nach Baja California im Nordwesten Mexikos. „Dort kann ich zwar keine Dollar verdienen, aber vielleicht ein paar Pesos.“ Heute ist sein letzter Tag im Tal der Toten.

Vor über zehn Jahren stand unten am Fluss ein kleiner Schlachthof – daher stammt der Name. „Seit einigen Jahren sterben aber auch Menschen hier“, sagt Castillo. Mexikanische Flüchtlinge auf dem Weg nach Norden. Besonders im Frühjahr ist es gefährlich im Tal. Das Wasser aus den Bergen bahnt sich seinen Weg in Richtung Meer, die Metallmauer an der Grenze steht im Weg. Nur in der Mitte geben zwei große Löcher den Weg frei. Dort allerdings den Grenzübergang zu wagen, ist gefährlich – Äste und Geröll werden vom Fluss mitgerissen, die Strömung ist unberechenbar.

Jetzt, im Spätsommer, wachsen kleine Büsche und Eukalyptusbäume im trockenen Flussbett. Auf dem Weg ins Tal raschelt es von allen Seiten. Gut 20 Männer warten auf den Einbruch der Dunkelheit. Jeden Abend kommen sie zusammen und essen. Aus der Stadt haben sie ein paar Maisfladen und etwas Gemüse mitgebracht und Holz für ihren Grill – einen alten umgedrehten Kühlschrank.

Der Koch heißt José. Seinen Nachnamen verschweigt er. Während die anderen diskutieren, spült er seine Messer und das Gemüse. José ist 42 Jahre alt und offenbar der Anführer der Gruppe. Mit seinen 1,90 Metern ist er mit Abstand der Größte und Kräftigste. Sobald eine Frage an die Runde geht, antwortet er. In bestem Englisch mit leichtem mexikanischen Akzent. „Ich war Kfz-Mechaniker in Long Beach, ich habe richtig gut verdient.“ Bei einer Razzia in einer Diskothek wurde er mit Kokain erwischt und dann abgeschoben. Jetzt hat er keine Chance mehr, legal in den USA zu arbeiten.

Die Sorgfalt, die José beim Kochen an den Tag legt, wirkt merkwürdig. Überall liegt Müll im Sand: Plastiktüten, Dosen, Flaschen, Pornohefte und schmutzige Kleidung. In den Büschen hängen alte Laken, die den Männern in der Nacht als Schlafunterlagen dienen. Während José Tomaten und Zwiebeln schneidet, diskutieren die andern: Wie man tagsüber ein paar Pesos in Tijuana verdienen kann, wo man billig isst und vor allem: wann und wie man am besten über die Grenze kommt. Seit gut 10 Jahren ist das schwierig geworden in Tijuana. 1992 wurden die Grenzkontrollen verstärkt und die ersten Stacheldrahtzäune aufgestellt. 1994 begann die Operation Gatekeeper – eine Initiative der Regierung Clinton für den damals am stärksten frequentierten Grenzabschnitt der USA: San Diego. Die Zahl der Grenzposten wurde deutlich erhöht, aus den Zäunen wurden Mauern. Bei Nacht sind die gut 100 Kilometer Grenze zwischen San Diego und Tijuana ausgeleuchtet, im Wüstensand liegen Sensoren, die auf jede Bewegung reagieren. Die Metallmauern sind ein Überschuss der Rüstungsindustrie. Ihre Einzelelemente wurden im Golfkrieg eingesetzt, als Landebahnen für Flugzeuge. Hier unten im Cañón de los Muertos zerschneiden sie das Tal. Zwei Öffnungen geben den Blick frei auf die andere Seite. Dort sitzen zwei Grenzposten im Jeep. „Die beste Chance“, sagt Castillo, „hast du im Morgengrauen bei Regen. Erstens sind die Gringos müde, und zweitens können sie dich nur schlecht sehen.“

Die Männer hier im Tal sind der beste Beweis dafür, dass die Operation Gatekeeper niemanden davon abhält, sein Glück zu versuchen. In einer aktuellen Studie kritisiert deshalb der US-amerikanische Bundesrechnungshof, das General Accounting Office, die Grenzstrategie der Regierung im Südwesten. Die Mauern in Tijuana hätten die Flüchtlinge nur umgelenkt: in die Berge und Wüsten, wo der Grenzübertritt weitaus gefährlicher ist. In den letzten drei Jahren starben rund 1.000 Menschen entlang der Grenze.

Die Männer im Tal der Toten kennen die Zahlen. Deshalb bleiben sie auch lieber hier, in der Nähe von Tijuana. Sie vertrauen auf ihr eigenes Glück und verzichten auf fremde Hilfe. Zwar gibt es noch immer viele Schlepper – doch die Coyotes sind kaum noch bezahlbar. „Vor ein paar Jahren“, sagt Victor Clark, ein Anthropologieprofessor und Menschenrechtsaktivist in Tijuana, „haben sie noch 250 Dollar für eine Fahrt nach Los Angeles verlangt, heute kann das Ganze gut 2.000 Dollar kosten.“ Die Menschen, die es selber versuchen, sagt Clark, seien mangelhaft vorbereitet: Sie hätten nicht genug Trinkwasser dabei und würden häufig von anderen Mexikanern ausgeraubt.

Auch in dieser Nacht drehen sich die Gespräche am Grill um gescheiterte Migrationsversuche. Einer der Jugendlichen erzählt: „Als ich drüben war, hat einer der Grenzposten mit dem Gewehr auf mich gezielt und gesagt: Ich werde dich töten.“ Die anderen in der Runde nicken. Sie haben die Szene gesehen, sagen sie. „Das haben sie schon öfters gemacht“, sagt Pedro Cota, „ich kenne das.“ Der 35-Jährige hält hier unten einen traurigen Rekord. 26 Mal, erzählt er, wurde er ohne Papiere in den USA geschnappt und wieder über die Grenze transportiert. Einmal habe er es sogar bis nach San Francisco geschafft und dort eine Zeit lang als Dachdecker gearbeitet. Pedro Cotas Blick ist unruhig, kaum einen seiner Sätze führt er zu Ende. In einem Ohr steckt eine amerikanische Münze, ein Quarter, in der Hand hält er einen schmutzigen Socken. Hinten in seiner abgeschnittenen schmutzigen Jeans steckt eine Flasche mit durchsichtiger Flüssigkeit. Es ist Klebstoff, zum Inhalieren.

Direkt an der Metallmauer hat Cota einen kleinen Altar aufgebaut. In der Mitte hängt ein Poster der Jungfrau von Guadalupe, seine Schutzpatronin. Für sie pflückt er jeden Tag frische gelbe Blumen im Tal und zündet nachts ein paar Kerzen an. Manchmal liest er in einer alten Bibel, die aufgeschlagen auf einem kleinen Podest liegt. „So habe ich das Gefühl, dass wenigsten irgendjemand auf mich aufpasst“, sagt Pedro. Vielleicht hilft ihm der Klebstoff ruhig zu bleiben, wenn US-amerikanische Hubschrauber durch den Nachthimmel fliegen und große Scheinwerfer das Gelände ausleuchten.

Noch ist es aber nicht so weit – die Männer genießen ihr Abendbrot. Während das Schweinefett in der Pfanne brutzelt, denkt José nach: über ein neues Amnestiegesetz für Mexikaner, die ohne Aufenthaltsgenehmigung in den USA leben. Anfang September kommen die Präsidenten George W. Bush und Vincente Fox zu bilateralen Verhandlung in Washington zusammen, und in den amerikanische Medien wird derzeit die Frage diskutiert, was mit den etwa drei Millionen illegal eingewanderten Mexikanern in den USA geschehen soll.

Vor 15 Jahren gab es schon einmal ein Amnestiegesetz für Mexikaner – gut 2 Millionen Arbeiter erhielten damals ein unbegrenztes Aufenthaltsrecht. Nach fünf Jahren konnten sie die amerikanische Staatsbürgerschaft beantragen. Doch im Cañón de los Muertos glaubt niemand an eine neue Amnestie. Eigentlich ist sie ihnen auch egal. Die Männer wollen nur ein paar Dollar verdienen und dann wieder nach Hause – nur die wenigsten wollen dauerhaft in den USA leben.

Während seine Kumpels um das Feuer herumsitzen und Kartoffeln mit Gemüse essen, geht Carlos Castillo noch einmal zur Mauer. Er wirft einen kurzen Blick durch eine Lücke in der Mauer und schüttelt den Kopf. Sein Traum ist ausgeträumt. Er wollte ein paar Dollar in den USA verdienen, sich einen kleinen Lkw kaufen und dann in Baja California Essen auf Rädern anbieten. Er hätte nicht gedacht, dass das alles so schwierig sein könnte.

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