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Der Schwerhörige

von BARBARA BOLLWAHNDE PAEZ CASANOVA

„Mein Leben ist bald vorbei.“ Dieser Satz klingt kokett aus dem Munde eines 75-Jährigen, der einen durchaus fitten Eindruck macht. Hermann Kant wirkt nicht wie ein alter Mann – trotz Hörgerät und künstlicher Herzklappen, die während des Gesprächs leise surren.

Es ist still geworden um den ehemaligen Vorsitzenden des DDR-Schriftstellerverbands. Vor fünf Jahren gab Kant seine Wohnung in Berlin auf und zog nach Prälank, einem Ort von gerade 40 Einwohnern, acht Kilometer vom mecklenburgischen Neustrelitz entfernt. Dort lebt er in einem reetgedeckten Haus am Rande des Müritz-Nationalparks. Er hatte es Ende der 60er-Jahre als Sommerhaus gekauft. Sattes Grün, wohin das Auge schaut, an die Wiese hinter dem Haus grenzt der Große Prälanksee, in dem Kant im Sommer seine Runden dreht. Doch ein Naturmensch ist der gebürtige Hamburger nicht. „Der Jungfernstieg ist schöner“, sagt er. „Die Natur hier habe ich ja immer, deshalb nehme ich sie nicht weiter zur Kenntnis.“

Von Prälank aus sind alle Unternehmungen Fernunternehmungen, alle Gespräche Ferngespräche, und im Winter ist der Postbote oftmals die einzige menschliche Seele, die Kant sieht. Deshalb nennt er das Haus mit den blau gestrichenen Fenstern „meine Höhle“.

Prälank ist aus der Welt, zumal, wenn man alleine dort wohnt. Die drei Kinder zwischen 15 und 24 Jahren leben in den USA – gemeinsam mit Kants 25 Jahre jüngerer Frau, einer Tanzwissenschaftlerin und Musikologin. Nachdem Marion Kant aus der Ostberliner Akademie der Künste entlassen wurde, fand sie erst Arbeit in England, dann im amerikanischen Philadelphia. „Wir haben uns freundlich geeinigt, dass das unser Leben ist“, sagt Kant.

Als die Bild-Zeitung zu Kants 75. Geburtstag am 14. Juni schrieb: „Kinder hatte er nie“ – da ärgerte er sich nicht wirklich über die Beschreibung eines vermeintlich vereinsamten Schriftstellers. Endlich einmal eine nachweislich falsche Behauptung über Kant, der vielen als „Einpeitscher“ der offiziellen DDR-Kulturpolitik galt. Erst kürzlich war sein Sohn drei Wochen bei ihm zu Besuch, und der Schriftsteller ist noch immer begeistert: „Finden Sie mal einen 15-Jährigen, mit dem sie drei Wochen klönen können!“

Solche langen Besuche sind die Ausnahme. Zum einen will Kant nicht jedem zumuten, „auf meinen Acker zu kommen“. Zum anderen will er nicht, dass „dreimal am Tag Leute klingeln, die Guten Tag sagen wollen“. Mit Einsiedelei habe das nichts zu tun, betont er. Zum Schreiben komme er eben nur, „wenn ich ganz intensiv dabei bin“. Wenn er Abwechslung will, besucht er ein befreundetes Ehepaar in der Nähe oder trifft sich mit dem Schriftsteller Helmut Sarkowski, der wenige Kilometer entfernt wohnt. Einmal im Monat geht das PDS-Mitglied Kant zum Treffen der Basisgruppe in Neustrelitz. „Weil ich es immer als ein Kernstück von sozialistischer Überzeugung begriffen habe, dass man sich zusammenschließen muss gegen die übermächtige Welt.“

Immer wieder zieht es Kant nach Berlin. Um seine vor elf Jahren eingesetzten Herzklappen überprüfen zu lassen; um Freunde wie Wolfgang Kohlhaase zu besuchen, der das Drehbuch zu seinem Buch „Der Aufenthalt“ geschrieben hat; um ehemaligen Freundinnen, mit denen er sich noch gut versteht, die Aufwartung zu machen; oder einfach, um in einer großen Buchhandlung vorbeizuschauen.

Ein fester Tag zur regelrechten Flucht aus Prälank ist seit fünf Jahren sein Geburtstag. Dann fährt Kant nach Hamburg und speist in einem der Nobelrestaurants in Blankenese, „absolut über meine Verhältnisse“. Ein saftiges Steak statt zäher Gratulationen. Damit ihm die Glückwünsche trotzdem nicht entgehen, hat sich Kant für dieses Jahr einen Anrufbeantworter mit extra großem Speicher zugelegt. Als er zurückkam, fand er 104 Nachrichten vor – und außerdem jede Menge Briefe.

Bei einem Cognac hörte und las er die Glückwünsche, und er fand es auf einmal gar nicht mehr so schlecht, Geburtstag zu haben. Zumal, wenn ihm zu seiner Überraschung Personen wie der SPD-Fraktionschef Peter Struck gratulierten – oder Egon Krenz brieflich bedauerte, wie er und Teile der Obrigkeit Kant zugesetzt hätten. Am meisten gefreut hat Kant „ein freundlicher Spruch“ des Leipziger Grafikers Wolfram Mattheuer, dem er einst vorgeworfen hatte, sich mit seiner Kunst zu weit von der DDR zu entfernen. Heute sagt Kant über ihn: „Er hatte mehr Recht als ich.“

Geht es um den Vorwurf, er habe für die Stasi gearbeitet, ist Kant von einem solchen Eingeständnis weit entfernt. Ausgerechnet er, der sein Leben und die DDR als „innige Berührung“ bezeichnet, soll ein Schurke gewesen sein? Die etwa 2.500 Seiten umfassende Akte „Martin“, die Kant als inoffiziellen Mitarbeiter belastet, ist für ihn „Kokolores“. „Wir hatten vom Schriftstellerverband eine Abmachung mit der SED-Leitung, dass ein Schriftsteller ein Visum bekommen muss, wenn wir einen Reiseantrag für ihn stellen. Wenn das Ministerium für Staatssicherheit nein sagte, sagte ich: ‚Seid ihr verrückt?‘ Daraus ist dann ein Bericht geworden.“ Punkt, aus. Erfolgreich strengte Kant gegen Zeitungen und Schriftsteller, die ihn als Stasi-Agenten bezeichneten, Unterlassungsklagen an.

Doch die juristischen Erfolge zogen literarische Niederlagen nach sich. Nach der Wende hat Kant drei Bücher geschrieben. Seine Autobiografie „Abspann“, den Roman „Kormoran“ und den Roman „Escape. Ein WORD-Spiel“. Besonders die beiden letzten Werke wurden von der Kritik verrissen. Kant selber nennt sie heute „nicht so wahnsinnig toll“. Schuld daran seien die Stasivorwürfe, die bei ihm zu einer „Unbalanciertheit“ geführt hätten.

Kant hat sich – wenn auch langsam – von der Kritik erholt und ein neues Buch geschrieben. Fünf Jahre hat er sich „gequält“, um die 546 Manuskriptseiten mit dem Titel „Okarina“ fertigzustellen. Wie oft er auf der Suche nach den passenden Worten zwischen Arbeits- und Wohnzimmer „hin- und hergelatscht“ ist, weiß er nicht mehr. „Das Schreiben fällt schwerer“, so viel steht fest. Im kommenden Frühjahr soll „Okarina“ im Aufbau-Verlag erscheinen. Kant ist sich jetzt schon sicher, dass auch dieses Buch „Schwierigkeiten haben wird“. Das Werk handele von einem marxistischen Menschen, „ohne dass er verbissen ist“, der ein abenteuerliches Leben erzählt. Es handele sich nicht um eine Autobiografie, betont Kant.

An seinem idyllischen Wohnort am See findet Kant vielleicht die Ruhe, die er zum Schreiben braucht. Doch wirklich zur Ruhe ist er in all den Jahren offensichtlich nicht gekommen. Er will weg aus Prälank. Noch immer stehen Dutzende verschlossener Bücherkisten auf dem Boden. Die will Kant erst auspacken, wenn er irgendwann wieder nach Berlin zieht. „Dort habe ich Freunde, oder ich latsche einfach viel rum.“ Wenn jemand käme und „einen anständigen Geldsack auf den Tisch legt“, würde Kant das Haus verkaufen – auch wenn „ein Stück Leben drin steckt“.

Ausgepackt hat er nur seine eigenen Veröffentlichungen, die im Arbeitszimmer ein schmales Regal von der Decke bis zum Boden füllen. Und in einem kleinen Regal im Wohnzimmer, ausgestattet mit alten Holzmöbeln, stehen die Bücher, die er in letzter Zeit gelesen hat. Von John le Carré, Thomas Harris, Frank Beyer, Julian Barnes. Derzeit beschäftigt sich Kant mit den Kommentaren zu den Tagebüchern von Georgi Dimitroff.

Aus der Sicht von Hermann Kant beruhen viele Vorwürfe gegen ihn auf Missverständnissen. Zum Beispiel die, die der Schriftsteller Günter Kunert erhebt. Bevor Kunert Ende der 70er-Jahre in den Westen ausreiste, wurde Kant von Erich Honecker beauftragt, noch einmal mit ihm zu reden. Kant hat dieses letzte Treffen in „freundlicher“ Erinnerung. Deshalb war er enttäuscht, als sich Kunert ein Jahr später nicht bei einer einzigen Lesung Kants im Westen blicken ließ. „Das sind irrationale Vorgänge, das tut mir Leid, denn Kunert ist ein richtiger Schriftsteller“, sagt Kant heute.

Kunert hat das letzte Treffen in weniger freundlicher Erinnerung. „Kant kam als Gesundbeter, als es zu spät war.“ In Kunerts Akte taucht Kant als IM auf. „Da bin ich nicht der gute Schriftsteller, wie er sagt, das ist alles sehr negativ über mich.“ Für Kunert ist Kant ein „Verdrängungskünstler, der seine Vergangenheit radikal abgeschnitten hat“, einer von denen, „die sich herauswinden wollen und nicht verstehen können, dass man was gegen sie haben kann“.

Kant hat die Fähigkeit, auch bei eingeschaltetem Hörgerät auf Durchzug zu schalten. „Wenn ich jemandem ein persönliches Leid getan hätte, würde ich hingehen“, sagt er. Stolz fügt er hinzu: „Ich bin nach wie vor ein sozialistisch gesinnter Mensch und Marxist.“

Und: „Ich war ein absoluter Parteigänger der sozialistischen Ideen. Sämtliche Staatsorgane waren Organe meines Staates.“ Wenn Fehler begangen wurden, dann im Kollektiv: „Wir haben das Ding vergeigt. Wir waren zu selbstgewiss und haben oft vergessen, weshalb wir diese DDR gemacht haben. Wir haben Gedanken- und Herzlosigkeit zugelassen.“

Von Entschuldigungen, zum Mauerbau oder den Toten, hält Kant nichts. „Damit erreicht man nur, dass weitere Entschuldigungen abverlangt werden.“ Da könnte er ebenso verlangen, dass sich eine „bevollmächtigte Instanz“ bei ihm dafür entschuldigt, dass ihm als junger Mann ein Gewehr in die Hand gedrückt wurde und er vier Jahre in Kriegsgefangenschaft war. Tut er aber nicht. Denn: „Geschichte ist was ziemlich Grausames.“

Hermann Kant ist mit sich im Reinen. „Das will ich Ihnen mal sagen: In diesen zwölf Jahren hat mich niemand, null, irgendwann unfreundlich angesprochen.“ Sein Problem liegt woanders. „In der DDR war der Literat ein wichtiger Mensch, Adresse für Hoffnung und Zorn.“ Dort hatte er „das Gefühl eines anstrengenden, aber ergebnisreichen Lebens“. Und heute? „Da kann jeder machen, was er will – und es ist gleichgültig.“

Bestätigung findet Kant bei seinen treuen Lesern im Osten, die ihm bei Lesungen an den Lippen hängen und ihn vor kritischen Fragen verschonen. „Die Leute haben meine Bücher gern gelesen, sie werden mich bis zum Tod freundlich behandeln.“ Eine Gewissheit, die ihm niemand nehmen kann.

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