: Angst vor dem Durchbruch
Auf Hiddensee ist nicht nur die Küste bedroht. Naturschützer machen sich bei der Bevölkerung unbeliebt
von Hiddensee KENO VERSECK
„Dynamische Küstenprozesse? So ’n Quatsch!“ Egon Schlieker fährt mit der Hand durch die Luft. Begriffe wie lästige Fliegen. Er schimpft weiter, in ruhigem, breitem Küstenton. „Die legen es drauf an, dass uns die Insel durchbricht. Im Süden gibt es mehrere gefährdete Stellen. Den Durchbruch hatten wir ja mal, 1864. Der wurde nach der großen Sturmflut 1872 zugeschüttet. Seitdem haben sich alle Regierungen, unterm Kaiser, unter den Nazis und in der DDR, immer um den Küstenschutz gekümmert.“ Diesen Satz hat Schlieker schon öfter gesagt und war damit sogar in den Nachrichtenagenturen. Er weiß es: Bei Vergleichen mit Nazis und DDR wachen die Presseleute auf.
Die Insel, das ist Hiddensee. Egon Schliekers Familie ist dort seit dreißig Generationen ansässig. Und so was gab’s noch nie. So was, das heißt: Mecklenburg-Vorpommerns Umweltminister Wolfgang Methling plant, den Küstenschutz auf Hiddensee einzustellen. Genauer: den Küstenschutz im unbewohnten Süden der Insel. Neuendorf, der südlichste Ort der Insel, so hieß es in der Begründung des Ministeriums, sei 1999 eingedeicht und vor Sturmfluten geschützt worden. Damit sei das Land seiner gesetzlichen Verpflichtung nachgekommen, in bebauten Gebieten den Küstenschutz zu gewährleisten. Eine weitere gesetzliche Verpflichtung bestehe nicht.
Diese knappe Ankündigung empörte viele Hiddenseer. Öffentliche Anhörungen fanden statt. Die Mehrheit der Behörden, Interessenverbände, Reedereien und betroffenen Gemeinden wandte sich gegen die neuen Pläne. Mit Erfolg: Mitte August vertagte das Ministerium die Entscheidung über den Küstenschutz und forderte ein Gutachten an. Es soll klären, ob ein Durchbruch Hiddensees die Schifffahrt beeinträchtigen würde. Die Sprecherin des Umweltministeriums Mecklenburg-Vorpommern, Ilona Stadler, beruft sich auf die gesetzlichen Regelungen. „Das Gesetz sieht nur Küstenschutz in bebauten Gebieten vor. Für alles andere muss erst das Gesetz geändert werden.“ Nach vielem Nachfragen sagt sie: „Wenn wir den Küstenschutz auf Hiddensee freiwillig weiter finanzieren, haben wir einen Präzedenzfall. Dann kommen alle anderen auch. Und unsere Küste ist ja lang.“
Egon Schlieker, 68, Diplomfischwirt, war früher querköpfiger SED-Ortssekretär auf Hiddensee und ist heute querköpfiger Vorsitzender der unabhängigen Hiddenseer Wählergemeinschaft, die im Gemeinderat die Mehrheit hat. „Wenn der Durchbruch erst mal da is, dann ham Se da ’ne Strömung, die spült den ganzen Schapproder Bodden zu. Die Folgekosten für die Schifffahrt und die Fischerei liegen mehrfach höher als der Aufwand, den Steinwall an der Ostseeseite um zwei bis drei Kilometer zu verlängern. Um das zu erkennen, brauchen wir kein Gutachten. Die vom Umweltministerium sollten mal lieber die Fischer fragen.“
Die Schliekers wohnen in einem Haus am Neuendorfer Hafen. Zu DDR-Zeiten haben sie den Wettbewerb „Schöner unsere Städte und Gemeinden – Mach mit!“ gewonnen und dann am 1. Mai dieses Emailleschild im DIN-A4-Format neben die Haustür geschraubt bekommen. Da steht, unter Hammer und Zirkel im Ährenkranz: „Vorbildliches Haus“. Egon Schlieker ist stolz auf das Schild, er würde es nie abmontieren. „Gegen Hammer und Zirkel hab ich nix“, sagt er mit erhobener Stimme.
Eigenwillige Neuendorfer
Heutzutage ist es schwer, vorbildlich zu sein in Neuendorf. Die Häuser sehen fast alle so gepflegt aus wie das der Schliekers. Alle Fenster wurden ausgewechselt. Kein Müll mehr vor und hinter den Dünen. Alte Beton- und Maschinenteile liegen höchstens noch da, wo die Touristen es nicht sehen. Die Hiddenseer sind eigenwillige Leute. Über die Neuendorfer sagen die anderen Hiddenseer: eigenwillige Leute. Die meisten Touristenboote legen in Vitte und Kloster an, den Orten im Norden. Die Neuendorfer waren immer die Letzten. Bei Strom, Telefon, Deichen und eben Touristen. Und dann hat der Nationalpark ihnen auch noch den idyllischen Gellen weggenommen, die Südspitze der Insel, auf die sie früher ihre Kühe trieben. Auf den Gellen darf schon lange niemand mehr. Er ist Nationalpark-Schutzzone.
Bernd Blase ist Leiter des Nationalparkamts „Vorpommersche Boddenlandschaft“ auf Hiddensee. Er wohnt seit 35 Jahren auf der Insel. Einer vom Festland. „Das Umweltministerium ist im Hauruckverfahren an die Sache herangegangen“, sagt Blase. „Das kann man mit Inselbewohnern nicht machen. Küstenschutz ist auch ein psychologischer Faktor.“ Sein Nationalpark ist unbeliebt. Aber Bernd Blase versteht die Hiddenseer. Überall Naturschutz. Gebiete, in die niemand hineindarf. Sperrzonen für Fischer. In den Anhörungen des Ministeriums haben irgendwelche Umweltschützer von außerhalb gesagt, dynamische Küstenprozesse seien gut für die Natur, und wenn die Insel durchbricht, könnten die Hiddenseer ja eine Brücke über den Durchbruch bauen. Aber Blase lebt auf Hiddensee. Er sitzt zwischen allen Stühlen. „Am schlimmsten sind manche Naturschützer selbst“, klagt er. „Die gehen ohne Genehmigung auf den Gellen und sagen, wir sind vom Naturschutzbund, wir wissen, wie wir uns verhalten müssen. Die Einheimischen, die nicht auf die Südspitze ihrer Insel dürfen, sehen das. Und ich muss denen das dann erklären.“
Professor Lutz-Arend Meyer-Reil geht nicht ohne Genehmigung auf den Gellen. Aber er ist Gründer des Instituts für Ökologie auf der Insel. Das klingt nach Umweltschutz. Niemand kann wissen, was er da so für Forschungen treibt und was dann noch alles auf die Leute von der Insel zukommt. Das Institut, das zur Universität Greifswald gehört, gibt es seit zehn Jahren. Zweimal im Jahr ist Tag der offenen Tür. Ganz selten kommen mal ein paar Einheimische. Neulich war der Bürgermeister von Hiddensee zum ersten Mal da. „Inselbewohner haben immer Angst, dass das Meer ihre Insel verschluckt“, sagt Meyer-Reil. „Deshalb gibt es auf Hiddensee nur emotionale Diskussionen über Küstenschutz.“ Mit dem zerzausten weißen Haar und der Pfeife im Mund sieht der Professor aus wie ein erfahrener Kapitän. „Ich will, dass die Insel so bleibt, wie sie ist“, sagt er. „Aber ich spreche gegen die Angst. Wenn die Insel wirklich einmal durchbricht, was eher unwahrscheinlich ist, dann glaube ich nicht, dass jemand zu Schaden kommt.“ Die Mitarbeiter des Instituts untersuchen die Meeres- und Boddengewässer in den Nationalparkzonen um Rügen, Hiddensee und den Darß. Durch die Abwässer der DDR-Landwirtschaft sind die Gewässer noch immer stark überdüngt. Meyer-Reil würde gerne mit der Hiddenseer Gemeinde zusammenarbeiten. Zum Beispiel bei seinem Seegrasprojekt: Man könnte Seegras und Tang an den Stränden sammeln und es für Biogasproduktion und als Isoliermaterial verwerten. Zugleich würde den belasteten Gewässern ein Nährstofffaktor entzogen, die Strände wären sauberer. Noch gab es kein Interesse auf Hiddensee.
Auch die Sachsen überlebt
„Die Naturschützer“, schimpft Egon Schlieker, „hörn Se bloß auf!“ Schlieker schaut in Richtung Süden. Wer hier oben am Wasser lebt, kriegt einen Blick fürs Weite, sagen die Alten. „Denen hab ich mal gesagt, wir haben die Nazis überstanden, die Sachsen, und euch wern wir auch überstehn. Das mit den Sachsen ham einige nich verstanden“, sagt Schlieker schmunzelnd. Dann klagt er: „Die Küstenfischerei, die wir in der DDR aufgebaut haben, ist kaputtgegangen.“ Er zählt auf: Wegen des Naturschutzes gibt es Sperrzonen für die Fischer, im Osten nur die Hälfte der Dorschquote des Westens, fürs Kilo Hering statt eins vierzig nur noch dreißig Pfennig. Die Reederei Hiddensee ist in der Hand von Leuten aus dem Westen. Der Bund hat gerade die Bunkeranlagen auf dem Dornbusch abgebaut und die Betonreste für viel Geld abtransportiert, statt sie im Meer zu lassen, zum Schutz der Küste. Gegen die Stimmen des Gemeinderats. Nun sollen Off-Shore-Windparks gebaut werden, draußen vor der Insel. Und schließlich der Komoran. Der frisst ein halbes Kilo Fisch am Tag. Vor der Wende gab’s ein paar tausend Brutpaare. Weil die Grünen den Komoran schützen, sind es jetzt 60.000 Vögel an der ganzen Küste. Leicht auszurechnen, was da jeden Tag an Fisch weggeht.
Ist eigentlich alles schlimmer als früher? Schlieker überlegt ein wenig. Dann sagt er: „Die Naturschützer bestimmen zu viel. Es wird überhaupt zu viel von außen bestimmt. Und dann ist es auch so: Früher gab es viel mehr Gemeinsamkeiten im Dorf. Jetzt reden alle nur noch übers Geld. Hiddensee ist nicht mehr, wie es mal war.“
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