: Judentum als politische Theorie
Michael Walzer unternimmt den ehrgeizigen Versuch, die politische und moralische Tradition des Abendlandes aus jüdischer Sicht neu zu erfinden
von MICHA BRUMLIK
Der in Princeton lehrende Politikwissenschaftler Michael Walzer hat das Bild des modernen Intellektuellen in Frage gestellt und sich kritisch mit einer universalistischen Theorie der Gerechtigkeit auseinander gesetzt. Intellektuelle, die vorgeben, von einem abstrakten moral point of view aus zu urteilen, hält er für ebenso missgeleitet wie eine Theorie der Gerechtigkeit, die nicht zur Kenntnis nimmt, dass so unterschiedliche Güter wie Geld, Rechte oder Liebe nach unterschiedlichen Verteilungsprinzipien zu vergeben sind. Umfassende gesellschaftliche Gerechtigkeit ist in seinem Sinn nur zu erzielen, wenn man nicht jede Ungleichheit ablehnt.
Wenn Intellektuelle mehr als nur Glasperlenspiele betreiben wollen, sollten sie einsehen, dass sie ein aktiver Teil jener Gesellschaft sind, die sie kritisieren, und daher für diese Gesellschaft Verantwortung übernehmen. Dies hat Walzer schon seit längerem der Tradition der Frankfurter Schule mit ihrem Beharren auf negativer Kritik entgegengehalten. Aus dieser Haltung folgt umgekehrt, dass jede Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Missständen eine Situierung des Kritikers in einem konkreten, partikularen Rahmen voraussetzt. Dem ist Walzer in seinem eigenen Leben als jüdisch-amerikanischer Staatsbürger stets gerecht geworden: Als junger Mann Aktivist des Civil Rights Movement, war er einer der schärfsten Kritiker des Vietnamkriegs. Einem sozialistisch-zionistischen Milieu der amerikanischen Diaspora entstammend, stand für ihn die kritische Solidarität mit dem Staat Israel niemals in Frage.
Vor diesem theoretischen und biografischen Hintergrund unternimmt Walzer jetzt den ehrgeizigen Versuch, die politische Theorie der westlichen Welt neu zu denken. Die politische Tradition des Abendlandes beruht auf der antiken Philosophie, dem ebenfalls in der Antike entstandenen römischen Recht sowie den moralischen Intuitionen der Bibel, des Alten und des Neuen Testaments.
Bis heute bezieht sich das Nachdenken über Demokratie und Tyrannis, über Bürgerschaft und gemeinschaftliche Freiheit, über ausgleichende und austeilende Gerechtigkeit auf die Werke von Platon und Aristoteles. Dies zu korrigieren und die verdeckten biblischen Wurzeln des politischen, nicht nur des moralischen Denkens, offenzulegen, hat Walzer schon vor Jahren erfolgreich versucht – anhand einer neuen Lektüre der biblischen Exodusgeschichte und ihres Fortwirkens bei den puritanischen Gründervätern der Neuenglandstaaten. Nach dieser Studie muss sein neues Werk über die politische Tradition des Judentums erhebliche Neugier und große Erwartungen wecken. Gemeinsam mit den in Tel Aviv lehrenden Rechtsphilosophen Menachem Lorberbaum und Noam Zohar hat er das auf vier Bände angelegte Opus magnum geplant und den ersten Band „Autorität“ jetzt in den USA herausgegeben.
Das vierbändige Werk besteht im Wesentlichen aus sorgfältig eingeleiteten und von namhaften Gelehrten kommentierten Originaltexten jüdischer Autoren aus drei Jahrtausenden – von Bibeltexten bis zu Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Auswahl der Texte folgt einem Gliederungsprinzip, das seinerseits eine politische Theorie in der Nussschale enthält. Während sich politikwissenschaftliche Texte üblicherweise mit Herrschaft und Freiheit, mit Staatlichkeit und Demokratie auseinander setzen, geht es bei Walzer, abstrakter und konkreter zugleich, im ersten Band um „Autorität“, während sich die drei künftig erscheinenden Bände jeweils mit der Frage der „Mitgliedschaft“, der „Gemeinschaft“ und der Frage der „Politik im Lauf der Geschichte“ auseinander setzen.
Der vorliegende erste Band dokumentiert jüdisches Denken über politische Autorität durch die ganz unterschiedlichen biblischen Stimmen von Gott, Priestern, Königen und Propheten, von Texten biblischer Weiser und Kommentaren talmudischer Lehrer, anhand der Sendbriefe mittelalterlicher Rabbiner sowie neuzeitlicher sowie moderner jüdischer Philosophen und israelischer Rechtsgelehrter.
Um Sinn und Grenzen dieses Unterfangens zu verstehen, ist es nützlich, sich vorzustellen, ob derlei auch im Falle des Christentums möglich wäre, ob also ein Sammelwerk, das sich mit der politischen Philosophie des Christentums vom Neuen Testament über Augustinus und Luther, von Carl Schmitt bis zum Weltkirchenrat auseinander setzt, sinnvoll wäre. Damit ist die Frage gestellt, ob denn wirklich ein roter „jüdischer“ Faden die verschiedenen Texte des Bandes durchzieht – eine Frage, die Walzer nur unbefriedigend beantwortet. Gemäß der Logik seiner Auswahl besteht die jüdische politische Tradition aus Texten, die von politisch interessierten Juden verfasst wurden – und seien sie so unterschiedlicher Art wie der pantheistische Rationalist und Demokrat Baruch Spinoza, der im frühen neunzehnten Jahrhundert wirkende rabbinische Reaktionär Moses Sofer oder der erste israelische Premier David Ben Gurion. Das Konstruktionsprinzip des Bandes ist eine konsequent durchgehaltene „Wir-Perspektive“, mit der Walzer ein fraglos gegebenes jüdisch-ethnisches Kollektiv als kontinuierliche historische Größe voraussetzt.
Die Rechtfertigung dieses Vorgehens sehen Walzer und seine Mitherausgeber in der durchgängigen „Intertextualität“ der vorgestellten Tradition: Jüdisches Denken bezieht sich demnach stets auf anderes, vorhergegangenes jüdisches Denken. Darüber hinaus folge jüdisch politisches Denken – wohl der talmudischen Tradition entsprechend – einem weit gehend rechtsbezogenen Duktus. Aus diesen Gründen fallen denn intellektuelle Revolutionäre wie Marx oder Durkheim aus der vorgestellten Auswahl heraus. Unklar bleibt zudem, warum Sigmund Freud, der sich in seinem späten „Mann Moses“ sehr wohl mit dem Thema der Autorität unter Bezug auf die jüdische Tradition auseinander gesetzt hat, nicht in die Auswahl aufgenommen wurde, während der zionistische Visionär Theodor Herzl, der alles dem modernen Nationalismus, aber nichts der jüdischen Tradition verdankt, gleichwohl vertreten ist. Dem darin deutlich werdenden ethnischen Grundimpuls folgend, realisiert Walzer in seinem Sammelwerk den Anspruch als Intellektueller im eigenen Kollektiv wirksam zu werden.
Diesem jüdischen Kollektiv, das sich heute über den jüdischen Staat Israel und noch mehr über die in den USA bedeutende jüdische Diaspora definiert, soll das Sammelwerk alternative, reichere Wege des politischen Denkens und Handelns aufweisen. Im Unterschied zum politischen Denken in Christentum und Islam zeichnet sich nun jüdisches Denken, wie Walzer es versteht, mit Ausnahme der biblischen Texte dadurch aus, dass der Bezug auf eine eigene Staatlichkeit über Jahrtausende fehlen musste. Diesem Defizit – und hier schließt Walzer an die von ihm geführte Debatte über den Kommunitarismus an – entsprach aufgrund der eingeschränkten Situation der Juden in von anderen Gruppen beherrschten Gemeinwesen ein umso stärkeres Nachdenken über Struktur und Verfassung subpolitischer Gemeinschaften und kommunaler Gerechtigkeits- und Wohlfahrtsprinzipien.
Der Mangel an staatlicher Souveränität, unter dem die jüdische Gemeinschaft über Jahrhunderte zu leiden hatte, hat auch und gerade im heutigen Staat Israel seine Spuren hinterlassen. Walzer und seine Mitherausgeber sind der Überzeugung, dass die Erfahrung eines Souveränitsdefizits ihre Spuren bis in die aktuelle Politik des Staates Israel – sowohl gegenüber den Palästinensern als auch in den Konflikten zwischen Religiösen und Säkularisten – hinterlassen hat.
Darüber hinaus sei politisches Handeln im heutigen Israel noch immer durch einen so nur aus der Diaspora heraus verständlichen Klientelismus geprägt. Walzer, der entschieden für einen säkularen Staat Partei ergreift, dokumentiert besonders im letzten Teil des Bandes die unterschiedlichen Perspektiven auf einen jüdischen Staat, der immer wieder das Spannungsverhältnis von Demokratie und theokratischer Tradition aushalten muss. Dass Walzer nun ausgerechnet die biblischen Könige Israels im Unterschied zu den theokratischen Propheten als Vorläufer einer säkularen Tradition anführt, erscheint indes ein wenig fragwürdig. Hier bedarf es einer doch sehr starken „Relecture“ – lassen doch die biblischen Texte keinen Zweifel daran, dass sie im Zweifel stets auf der Seite der Propheten und ihrer universalistischen Moral stehen. Nach modernen Kriterien gilt diese Moral jedoch als „gesinnungsethisch“ und damit geradezu als antipolitisch.
Walzers und seiner Mitherausgeber durch den Begriff der „Intertextualität“ aufgewertetes, gleichwohl naiv lebensweltliches Verständnis dessen, was „jüdisch“ heißt, hat sie einer strengen Überprüfung der von ihnen nun gestifteten Tradition enthoben. Trotz der modisch bemühten „Intertextualität“ nämlich haben sie sich der Frage nach der Situiertheit, der Historizität dieser Texte und der Schwierigkeiten ihrer Hermeneutik souverän enthalten. Es scheint, als ob die Standortgebundenheit des Intellektuellen einer unhistorisch gelesenen Tradition bedarf.
Indem Walzer dem jüdischen Denken in der zweitausend Jahre währenden Spanne zwischen Antike und Moderne vor allem eine Positionierung in der Diaspora und damit eine Verengung auf die „unpolitischen“ Pole von Vertreibung und Erlösung vorhält, appelliert er gut aristotelisch – und nun gar nicht jüdisch – an einen „mittleren Grund“, an eine durchaus angelsächsische Tradition maßvollen staatlichen Handelns, das Katastrophismus, Utopismus und Resignation ausschließt. Tatsächlich war ja das rabbinische Denken nach der durch messianisches Fühlen ausgelösten Katastrophe des Untergangs des antiken jüdischen Staats im Jahre 70 über Jahrhunderte durch diese Nüchternheit gekennzeichnet.
Diese Nüchternheit leitete auch noch den mittelalterlichen Aristoteliker Maimonides, wenn er bemüht war, Streitigkeiten zwischen unterschiedlichen jüdischen Gemeinschaften über Auslegungsfragen durch ein frühes Pluralismusprinzip zu entschärfen. Ist es mehr als ein Zufall, dass sich diese apolitische Nüchternheit im jüdischen Staat genau deshalb nicht einstellen will, weil gerade die Voraussetzungen fehlen: eine nationalstaatliche Politik und die Bescheidenheit des klug seine Möglichkeiten kalkulierenden Untertans unter fremder Herrschaft schließen sich eben aus.
Aber wie dem auch sei: Habent sua fata libelli – die Bücher haben ihre Schicksale, und die Intentionen ihrer Autoren haben mit ihrer Wirkungsgeschichte meist nichts mehr zu tun. Die künftige Rezeption dieser ebenso großartigen wie wohl gewollt naiven Anthologie wird erweisen, ob jüdische Quellen die Erneuerung der Politik in einer Zeit ihres theoretischen Erschöpfungszustandes wirklich befördern können.
Michael Walzer/Menachem Lorberbaum/Noam J. Zohar (Editor)/Yair Lorberbaum (Co-Editor): „The Jewish Political Tradition. Volume one: Authority“, 578 Seiten, Yale University Press 2001, $ 35 (ca. 40 €)
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