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DER BÜNDNISFALL MACHT DIE NATO NOCH MEHR ZUR INTERVENTIONSMACHTDie Schwelle sinkt

Die Nato deutet die Mordanschläge in New York und Washington als einen „bewaffneten Angriff“ auf eines ihrer Mitglieder – und erklärt den Bündnisfall nach Artikel V des Nato-Vertrages. Das Bündnis kehrt formell zu dem zurück, wofür es ursprünglich einmal gedacht war: zur kollektiven Verteidigung für den Fall eines Angriffs auf einen Mitgliedsstaat.

Es scheint, die Nato-Kritiker könnten beruhigt sein. Ist die Brüsseler Entscheidung doch vordergründig ein Zeichen dafür, dass der Drang der Allianz, sich ständig neue Aufgaben zu suchen, gebremst wurde. Statt militärischer Abenteuer in fernen Ländern geht es offensichtlich wieder um den Schutz der Bürger.

Doch Zweifel sind angebracht. Denn politisch ist diese Entwicklung ein weiterer Schritt in Richtung weltweiter Interventionsmacht. Wird jetzt ein Präzedenzfall gesetzt, so werden auch Terroranschläge mit weit weniger katastrophalen Ausmaßen von der Nato als „bewaffneter Angriff“ interpretiert werden. Selbst wenn sich die Geldgeber und Organisatoren in diesem Fall tatsächlich identifizieren lassen sollten, bei anderen Anschlägen wird dies sehr viel schwieriger sein.

Denn auch bei der Organisation von Terror und Krieg ist eine Globalisierung erkennbar. Terrorgruppen und nichtstaatliche Guerillaarmeen basieren fast immer auf internationalen Netzwerken, sei es zur Ausrüstung, Ausbildung oder Finanzierung. Wird in diesen Fällen künftig auch die Nato aktiv?

Einige der Terroristen der jüngsten Anschläge sollen ihre Pilotenausbildung in den USA erhalten haben. Niemand würde deshalb auf die Idee kommen, den USA die Unterstützung des Terrorismus vorwerfen. Es gehört aber nicht viel dazu, sich vorzustellen, was passieren würde, wenn die Piloten statt in den Vereinigten Staaten in Libyen oder in Iran ausgebildet worden wären. Die Schuldfrage wäre eindeutig geklärt.

Das Bedürfnis, sich gegen den Massenmord in New York und Washington zu wehren, ist allzu verständlich. Bei der Feststellung des Bündnisfalles durch die Nato geht es aber wohl darum, den verletzten Allmachtswahn eines Militärbündnisses durch Aktionismus zu kurieren. Weil durch die Massenmorde von New York und Washington die Verletzlichkeit der entwickelten Industriegesellschaften offenbar wurde, soll jetzt faktisch der permanente Verteidigungsfall ausgerufen werden. Das ist ein Placebo für die wütende Volksseele. Mehr Schutz vor weiteren Anschlägen bringt dies nicht. ERIC CHAUVISTRÉ

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