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Die Taliban spielen auf Zeit

Nach der zweideutigen Empfehlung von Kabul kann es dauern, bis Bin Laden das Land verlässt. Gleichzeitig drohen die Mullahs mit dem „heiligen Krieg“

Wenn ein mächtiges Land ein schwaches angreift, ist dies ein Dschihad für Muslime

aus Delhi BERNARD IMHASLY

Der Rat islamischer Rechtslehrer hat nach einer zweitägigen Beratung in der afghanischen Hauptstadt Kabul der Taliban-Regierung empfohlen, Ussama Bin Laden zum Verlassen des Landes aufzufordern – allerdings „nach seinem eigenen Ermessen und zu einer Zeit seiner Wahl“. In einem zweiten Edikt wird den USA der „heilige Krieg“ in Aussicht gestellt für den Fall, dass sie Afghanistan angreifen. „Wenn ein mächtiges Land ein schwaches Land angreift, dann ist dies ein Dschihad für alle Muslime“.

Der Text ist in einem unpolemischen Ton abgefasst und drückt das Bedauern über die Opfer der Terroranschläge in den USA aus, verbunden mit der Hoffnung, dass die USA die „wirklichen Schuldigen“ bald dingfest machen. Er endet mit der Aufforderung an die USA, Afghanistan nicht anzugreifen und Geduld zu haben.

Die Ablehnung einer Auslieferung Bin Ladens durch die über tausend Schriftgelehrten war erwartet worden, nachdem sich Taliban-Chef Mullah Omar bei der Eröffnung der „Majlis-e-Shura“ einer Auslieferung ein weiteres Mal widersetzt hatte. Die vorsichtige Formulierung, die ein Nachgeben suggeriert, um dies anschließend wieder rückgängig zu machen, ist ein Paradestück von Verwischungskunst, ersichtlich am paradoxen Titel, den die meisten Agenturen der Meldung gaben: „Rechtsgelehrte drängen Bin Laden zur freiwilligen Ausreise“.

Damit soll wohl der internationale Druck aufgefangen und die Tür für Verhandlungen offen gelassen werden, ohne in der Sache – Auslieferung an die westliche Justiz – nachzugeben. Die Fatwa ist auch nicht direkt an den Saudi gerichtet, sondern an die Taliban, deren Aufgabe es nun ist, eine entsprechende „Aufforderung“ auszusprechen, was wiederum Zeit verstreichen lässt. Der Erziehungsminister der Taliban erklärte in Kabul, Mullah Omar werde das Rechtsgutachten umsetzen und Bin Laden zur Ausreise aus Afghanistan auffordern; dies werde aber, wie er hinzufügte, „einige Zeit dauern“.

In Pakistan haben sich die Anhänger und Gegner Bin Ladens noch nicht zu Wort gemeldet. Inzwischen hat auch Präsident Pervez Musharraf versucht, eine immer stärker amerikafeindliche Stimmung in seinem Land zu besänftigen. In einer Fernsehansprache appellierte er am Mittwoch an die Bevölkerung, seiner Entscheidung für eine Beteiligung an einer Koalition gegen den Terrorismus Vertrauen zu schenken. Die USA hätten von Pakistan Informationen verlangt sowie Überflugsrechte und logistische Unterstützung, und er habe dies zugesichert. Für die USA seien weder der Islam noch das afghanische Volk ein Feind, sondern Bin Laden, die Taliban und der Terrorismus. Er gab zu, dass es eine qualvolle Entscheidung gewesen sei, denn er habe sich immer für Afghanistan und die Taliban eingesetzt. Schließlich gehe es aber um das nationale Interesse Pakistans, und da sei ein Zusammengehen mit den USA nun einmal das „kleinere Übel“.

Das größere Übel, so Muscharraf, wäre nämlich eine Allianz der USA mit Indien, das er mit scharfen Worten als Einmischling angriff und aufforderte, sich „rauszuhalten“. In einer kalkulierten Formulierung an die Adresse der Hardliner in der Armee und in der Geistlichkeit sagte Musharraf, eine indisch-amerikanische Kooperation würde die nukleare Autonomie gefährden, zum Verlust Kaschmirs und zur Ächtung Pakistans als Terror-Staat führen.

Während das indische Außenministerium sehr ungehalten reagierte und die unerwartete Attacke als „krude“ qualifizierte, registrierte die Regierung in Washington ihre „große Freude“ darüber, Pakistan an Bord zu wissen. Bereits zuvor hatte die neue US-Botschafterin in Islamabad gesagt, die USA wollten Pakistan „ebenso entgegenkommen wie Pakistan uns entgegengekommen ist“.

Offensichtlich beabsichtigen sowohl Washington wie seine Alliierten, den Worten rasch Taten folgen lassen. Im Kapitol soll ein neuer Gesetzesentwurf die Nuklear-Sanktionen aufheben, und die EU will den unterbrochenen politischen Dialog wieder aufnehmen. Japan, Pakistans weitaus größtes Geberland, überlegt sich, wieder Entwicklungsgelder fließen zu lassen. Um die Besorgnis der Regierung in Delhi über ein Kippen des Gleichgewichts zu begegnen, sollen diese Maßnahmen auch auf Indien ausgedehnt werden.

Wichtiger als die Reaktionen im Ausland sind allerdings jene in Pakistan selbst. Die großen politischen Formationen, die Volkspartei und die Muslim-Liga, haben ihre Aversion gegen Musharraf geschluckt und stellen sich hinter den Präsidenten. Entscheidend wird aber die Haltung der islamischen Parteien sein. In seiner Rede hatte Musharraf behauptet, nur 10 bis 15 Prozent der Öffentlichkeit widersetzten sich seiner Politik. Folgt man allerdings einer Gallup-Umfrage, sind es zwei Drittel der Bevölkerung, nur 32 Prozent stellen sich hinter Musharraf, und gerade 7 Prozent befürworten eine formelle Allianz mit den USA.

Am Donnerstag kam es in verschiedenen Städten zu kleineren, aber teilweise lautstarken Demonstrationen, die vermuten ließen, dass es dem Präsidenten nicht gelungen ist, die radikalen Gegner auf seine Seite zu ziehen. Am Freitag dürfte sich das Bild weiter klären. Ein Zusammenschluss von 35 islamischen Organisationen hat zu landesweiten Protesten aufgerufen. Sie werden zeigen, ob es ihnen gelingt, neben den eigenen lautstarken Kadern auch die große Masse moderater Bürger gegen die USA zu mobilisieren.

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