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Der Postliberalismus kommt

Der Neoliberalismus ist out. Mit ihrem Konjunkturprogramm erkennt die US-Regierung an, dass der Markt nicht ohne Steuerung funktioniert. Neuer alter Hit: der Policy-Mix

Die Haushaltspolitikist noch kaum verändert. Aber dieDominanz einzelnerDoktrinen ist vorbei

Viel ist seit den Angriffen auf die USA am 11. September von einer Zeitenwende die Rede. Terror, Krieg und die nicht unwahrscheinliche globale Rezession bringen auch das ökonomische Koordinatensystem durcheinander. Fast 200 Milliarden Dollar lässt sich die US-Regierung ihr staatliches Hilfs- und Konjunkturprogramm für dieses und nächstes Jahr kosten. Fast eine Revolution im Heimatland des Neoliberalismus – so scheint es.

Denn nun greift George Bush massiv in die Wirtschaft ein. Nicht nur das britische Wirtschaftsmagazin Economist erinnert sich deshalb eines großen Namens: John Maynard Keynes. Mit seiner ökonomischen Theorie prägte der Nobelpreisträger die 30er- bis 50er-Jahre – große Einigkeit herrschte damals darüber, dass der Staat die Wirtschaft lenken solle. So wie seit den 70er-Jahren große Einigkeit über das Gegenteil herrscht.

Auch in Deutschland hat sich die Diskussion verändert. Mochte seit dem Antritt der Regierung Kohl kaum noch jemand keynesianische Forderungen erheben, ist die aktive Pflege der Konjunktur plötzlich wieder Thema. Wenn der Bundestag ab heute über den Haushalt 2002 debattiert, muss SPD-Finanzminister Hans Eichel seinen Sparkurs rechtfertigen. Die meisten Ökonomen fordern inzwischen mehr Schulden, um mehr Geld in die Wirtschaft zu pumpen.

Liegt das neoliberale Zeitalter also hinter uns? Wird die Politik den Märkten in Zukunft wieder Fesseln anlegen? Der Eindruck täuscht. Die US-Regierung hat sich nicht vom liberalen Saulus zum keynesianischen Paulus bekehrt, sondern sie praktiziert einen Postliberalismus – eine Mischung aus neoliberaler Doktrin und altbekannter Subventionspolitik, frisch gewürzt mit einer Prise Keynes.

Denn sie ist erwiesenermaßen schocktauglich. Die Weltwirtschaftskrise ab 1929 hatte dem britischen Ökonom gezeigt, dass der Staat schnell eingreifen muss, wenn der Markt in der Krise versagt. Die Regierung solle Schulden machen, ihre Ausgaben erhöhen und die Nachfrage schaffen, die der private Sektor nicht leisten könne. In den USA liefen gewaltige Infrastrukturprogramme an, der „New Deal“. Das Konzept lief jedoch aus dem Ruder, weil keine Regierung die Schulden in besseren Zeiten zurückzahlte.

Das war die Vorlage für US-Ökonom Milton Friedman. Weil die hohe Staatsverschuldung auch die Inflation angeheizt hatte, forderten die Neoliberalen nun das Gegenteil: Der Staat solle sich aus der Wirtschaft heraushalten, seine Ausgaben und Steuern reduzieren. Diese angebotsorientierte Politik gebe den Unternehmen mehr Geld für Investitionen, wodurch die Wirtschaft in Schwung komme.

Diese Maxime galt bis zum 11. September. Dann tat die US-Regierung wieder das, was Keynes verlangte – freilich mit anderer Motivation. Sie erhöhte die Staatsausgaben um 40 Milliarden Dollar für dieses und nächstes Jahr. Dabei stand freilich nicht die Überlegung im Mittelpunkt, die Nachfrage zu stärken. Es ging einfach um Katastrophenhilfe. Trotzdem wirkt die riesige Finanzspritze in keynsianischem Sinne. So erhielt die Stadt New York neun Milliarden Dollar, um die Trümmer des World Trade Center wegzuräumen, beschädigte Gebäude und die U-Bahn zu reparieren. Das Militär bekommt 2001 und 2002 mindestens 20 zusätzliche Milliarden Dollar. Darin enthalten: Ausgaben für zusätzliche Bomben, Munition und Flugbenzin.

Über diesen Not- und Militär-Keynsianismus hinaus zahlt die US-Regierung bis Ende 2002 weitere 24 Milliarden Dollar an die Not leidenden Fluggesellschaften. Das aber hat mit einer Stärkung der Nachfrage kaum etwas zu tun: Der Staat bekommt für sein Geld keine zusätzliche Leistung, sondern alimentiert eine vor dem Ruin stehende Branche.

Neu ist das nicht. Trotz seiner marktfreundlichen Ideologie findet sich das Land unter den größten Subventionszahlern weltweit. Nur wenige US-Farmer könnten ohne die staatlichen Garantiepreise, Zuschüsse und Importschranken überleben. Unter Präsident Reagan freuten sich Boeing, Lockheed & Co. über die Quersubventionierung ihrer Zivilflugzeuge durch zunehmende staatliche Rüstungsaufträge.

Auch das 100-Milliarden-Dollar-Programm, das das US-Repräsentantenhaus unlängst beschloss, enthält wenige Elemente von Nachfragepolitik. Im Gegenteil: 85 Milliarden Dollar davon gehen in Steuerentlastungen für Unternehmen und wohlhabende Bevölkerungsschichten. So soll der Prozentsatz erhöht werden, zu dem eine Investition von der Steuer abgesetzt werden kann. Die Minimalsteuer, die Unternehmen in jedem Fall bezahlen müssen, fällt weg. Die Körperschaftssteuer für Firmen wird reduziert. Der Staat zieht sich zurück und verteilt damit Geld an die Unternehmen, um sie zu Investitionen zu animieren.

Ähnliches schlagen im Übrigen die wichtigsten deutschen Wirtschaftsforscher vor. Eichel solle den Firmen Zuschüsse zahlen, wenn sie neue Maschinen oder Computer kaufen. Bislang erfolglos plädieren die Ökonomen außerdem dafür, die nächste Stufe der Steuerreform von 2003 auf 2002 vorzuziehen. Rückzug des Staates auch hier – wobei in der deutschen Variante alle Bevölkerungsschichten weniger Steuern zahlen, nicht nur die Wohlhabenden.

Das hat es lange nicht gegeben: Deutsche Wirtschaftsforscher fordern mehrStaatsschulden

Der Krieg bringt die Fortsetzung des Neoliberalismus mit anderen Mitteln. Nur 15 ihrer 100 Milliarden Dollar investiert die US-Regierung, um die Arbeitslosenunterstützung zu erhöhen. Die Demokraten wollen die Summe für Sozialausgaben dagegen auf 32 Milliarden Dollar anheben. Recht haben sie, denn Leute mit niedrigeren Einkommen geben einen größeren Anteil ihres Einkommens für Konsum aus als Gutverdienende.

Höherer und zeitlich längerer Anspruch auf Arbeitslosengeld würde die Wirtschaft gegenwärtig mehr ankurbeln als Steuererleichterungen für Firmen. Denn in den USA herrscht Rezession. Die Betriebe können viel mehr produzieren, als die Kunden zurzeit nachfragen. Manager werden die vom Staat geschenkten Mittel deshalb nur zu einem kleinen Teil in rationellere Anlagen stecken, denn diese Investitionen würden den Angebotsüberhang nur vergrößern. Stattdessen dient das zusätzliche Geld zum Beispiel dazu, eigene Aktien zurückzukaufen – das stimuliert zwar den Börsenkurs, nicht aber die Wirtschaft.

Trotzdem gibt es Anlass zu Hoffnung. Indem die US-Regierung innerhalb kürzester Zeit 200 Milliarden Dollar investiert, um das Land nicht noch weiter in den Abschwung sacken zu lassen, räumt sie ein, dass der Markt einer Steuerung bedarf. Das haben die neoliberalen Ökonomen in den vergangenen Dekaden stets negiert. Krieg und ökonomische Krise öffnen nun das Denken auch in der Wirtschaftspolitik.

Diese Situation unterscheidet sich wohltuend vom neoliberalen Paradigma. Wenn auch der Postliberalismus zunächst nur eine Abwandlung des Neoliberalismus ist, so erlebt der Policy-Mix doch eine Renaissance – eine kaum zu unterschätzende Veränderung des politischen Denkens. HANNES KOCH

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