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Als Vincinette kam

Bei der Großen Sturmflut vor 40 Jahren starben 315 HamburgerInnen. Ein Fünftel der Stadt wurde überflutet. Ein gewisser Helmut Schmidt wurde zum Helden, weil er noch Schlimmeres verhinderte  ■ Von Magda Schneider

Naturgewalten haben ihre eigenen Gesetze. Als der Verwaltungsbeamte Heinz von Appen – Mitglied des Sturmflutkrisenstabes im Ortsamt Finkenwerder – am Morgen des 16. Februar 1962 seine Eimsbüttler Wohnung gegen 5.30 Uhr bei heftigem Sturm verlässt, gibt es zwar eine Hochwasserprognose, niemals aber kommt ihm der Gedanke, dass in der kommenden Nacht Teile seines Zuständigkeitsbereiches in den Fluten der Elbe versinken werden. Denn Hochwasser ist für den Hamburger bekanntlich nichts Außergewöhnliches. „Schon am Morgen, als ich an den Landungsbrücken die Fähre nach Finkenwerder bestieg, wunderte mich allerdings, dass ich nicht wie üblich nach unten gehen musste“, erzählt er später seinen Kindern.

Über der Deutschen Bucht braust den ganzen Tag über der Orkan „Vincinette“. Er stürmt über Helgoland aus Nordnordwest und drückt das Nordseewasser mit Windstärke 12 in die Elbmündung. Selbst bei Ebbe sinkt der Pegel kaum. Der Vollmond verstärkt die Gezeiten, und eine zusätzliche Springflut in der Nordsee produziert weiteres Hochwasser.

In Hamburg herrscht an jenem Tag trotz Orkans und heftigen Winden ein eher ungetrübtes Treiben. Niemand fühlt sich ernsthaft bedroht. In den Einsatzstäben herrscht eine angespannte, aber routinierte Betriebsamkeit. Zwar sind Technisches Hilfswerk, Feuerwehr und Polizei wegen des Orkans in Dauereinsatz, doch die ernsthafte Bedrohung sieht niemand.

Selbst die Süderelberegion bereitet sich am Abend des 16. Februar auf eine ganz normale Nacht vor. Schließlich haben die Deiche, die ab 1963 verstärkt und erhöht werden sollen, den Fluten des Stroms in den vergangenen 100 Jahren stets standgehalten.

Heinz von Appen ruft am Nachmittag seine Familie an, teilt ihr mit, dass er vorsichtshalber im Amt bleiben muss und nicht mit der letzten Fähre nach Hause kommt, da die Wetterprognosen unzuverlässig seien. Konkrete Informationen über eine bedrohliche Lage liegen ihm zu diesem Zeitpunkt aber nicht vor.

Unruhe in den Lage- und Katastrophenstäben kommt erst auf, als das Wetteramt und das Deutsche Hydrografische Institut die Tideprognose für die Nacht konkretisieren: 3 Meter über dem mittleren Hochwasser. Der NDR verbreitet gegen 20.30 Uhr folgende Warnmeldung: „Das Deutsche Hydografische Institut gibt bekannt: Für den gesamten Bereich der deutschen Nordseeküste und der Stadt Hamburg besteht die Gefahr einer sehr schweren Sturmflut. Das Nachthochwasser wird etwa drei Meter über dem mittleren Hochwasser eintreten.“

Anhaltspunkte für Evakuierungen sehen die Behörde zu diesem Zeitpunkt jedoch immer noch nicht, fraglich ist aber auch, ob sie überhaupt realisierbar gewesen wären. Als gegen 22 Uhr der Sturm über der Nordsee seinen Höhepunkt erreicht und mit 150 Stundenkilometer zehn Meter hohe Wellenberge in die Trichtermündung der Elbe treibt, ist das Schicksal Hamburgs besiegelt. Sturm und Flut haben sich vereinigt. Das Wasser ist bei Ebbe nicht abgelaufen, die Flutwelle lässt die Pegel stetig anschwellen.

Gegen 22 Uhr bereits wird der erwartete Mitternachtspegel erreicht – der Pegel Cux-haven fällt wegen Überflutung aus. Die Katastrophenstäbe geben Alarm für Polizei und Feuerwehr, die Baubehörde ordnet den „Ausnahmezustand“ an. Die letzten Nachrichten der Tagesschau gegen 23.30 Uhr wiederholen die Sturmflutwarnung: Der nunmehr prognostizierte Pegelwert heißt 3,50 Meter über dem mittleren Hochwasser. Doch die wenigsten haben in diesen Jahren bereits einen Fernseher – die Warnung bleibt weitgehend ungehört.

Die meisten BewohnerInnen auf der Wilhelmsburger Elbinsel sind zu diesem Zeitpunkt bereits schlafen gegangen. Als gegen Mitternacht die Luftschutzsirenen in Hamburg zum Katastophenalarm aufheulen, kommt die Warnung für die Betroffenen zu spät – die Flutwelle, die sich stromaufwärts wälzt, hat bereits den Hamburger Hafen erreicht. Wenige Minuten später tritt das Wasser in Wilhelmsburg und Finkenwerder über die Deiche. Die Schutzwälle werden landseits vom Wasser aufgeweicht – Unterspülungen lassen die Deiche marode und mürbe werden, das Wasser drückt weiter. In Neuenfelde brechen am 17. Februar um 0.05 Uhr die ersten Deiche, das Wasser bahnt sich den Weg ins Landesinnere, es folgen die Deiche in Francop, Kirchwerder und Cranz, Moorburg und Altenwerder. Innerhalb einer halben Stunde gibt es 50 Deichbrüche, Hamburgs Süden versinkt in den Fluten.

Wilhelmsburg mit seinen 80.000 EinwohnerInnen ist vom Wasser der Norder- und der Süderelbe umschlossen, auch hier halten die Deiche den Wassermassen nicht mehr stand. Die Menschen werden von den Fluten weitgehend im Schlaf überrascht. Das Wasser steigt binnen weniger Minuten auf mehrere Meter, Straßen verwandeln sich in rauschende Ströme, Häuser brechen zusammen. Die meisten Opfer sind in den Behelfsheimen in Wilhelmsburg und Waltershof zu beklagen, in denen 17 Jahre nach Kriegsende noch immer Ausgebombte und Flüchtlinge leben. 315 Menschen finden laut offizieller Statistik den Tod, 15.000 Menschen werden obdachlos.

Auch am nördlichen Elbufer ist die Flut gewaltig. Neumühlen und der Fischmarkt stehen unter Wasser, der alte Elbtunnel an den Landungsbrücken läuft voll, die Fluten erreichen sogar den Rathausmarkt und Teile der Innenstadt.

Die völlig überraschten Behörden bekommen erst am Morgen Klarheit über das Ausmaß, weil Strom und Kommunikationskanäle weitgehend ausgefallen sind. 20 Prozent des Stadtgebiets steht unter Wasser, Tausende kämpfen in den Sturmflutgebieten um ihr nacktes Leben und suchen Zuflucht auf Dächern. Der Pegel St. Pauli erreicht gegen 3 Uhr nachts seinen Höchststand von 4,03 Meter über dem mittleren Hochwasser und 5,73 Meter über Normalnull: Einen halben Meter höher als 1825.

Angesichts der Notlage erinnert Innen- und Polizeisenator Helmut Schmidt (SPD) sich an seine Wehrmachtszeit. Er trifft eine Entscheidung, die ihn in Hamburg zum Helden werden lässt: Ohne gesetzliche Grundlage beordert er die Bundeswehr zur Hilfe an die Elbe und bittet die Oberbefehlshaber der ehemaligen Besatzungsmächte um Hilfe – der erste zivile Inlandseinsatz deutscher Soldaten nach dem 2. Weltkrieg. Tausende Pioniere mit Sturmbooten und schwerem Gerät rücken an, Hubschrauberstaffeln der Bundeswehr, der US-Army und der Royal Air Force werden an die Elbe abkommandiert, um die von Fluten eingeschlossenen Menschen zu evakuieren, die zum Teil völlig unterkühlt und übernächtigt auf den Dächern ausharren.

Da die Hubschrauber für derartige Einsätze nicht ausgerüstet sind, werden die Menschen oft durch waghalsige Manöver per Hand in die Helikopter gehievt. Allein am Tag der Katastrophe retten die „fliegenden Engel“ 400 Menschen von den Dächern ihrer zerstörten Häuser. Pioniere kämpfen sich mit Flößen und Booten zu Betroffenen, evakuieren sie oder versorgen sie mit Wolldecken und Lebensmitteln, dichten die Löcher in den Deichen notdürftig mit Sandsäcken ab. „Und trotzdem hatte die Stadt noch Glück, es hätte sehr viele Menschen mehr treffen können“, schreibt Helmut Schmidt heute im Vorwort des Buches „Land unter – Die Hamburger Flutkatastrophe 1962“.

Dass die Sturmflut 1962 eigentlich keine Jahrhundertflut war und schon gar nicht die letzte, zeigte sich bereits am 3. Januar 1976. Das Wasser steigt diesmal auf 6,25 Meter über Normalnull – also 75 Zentimeter höher als 1962. Wieder werden große Teile Hamburgs überschwemmt. Nur diesmal hat das Frühwarmsystem einigermaßen geklappt, und zumindest die inzwischen erhöhten neuen Deiche halten.

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