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Berliner Zimmer

Eine Familie im Wedding haut aus ihrer Wohnung ab. Zurück lässt sie Gerümpel und ein paar Erinnerungen. Niemand weint ihnen nach

„Na, die Alte. Die von mein Bruder. Nicht die Mama. Die Alte halt. Mensch, weisss du nicht, was eine Alte isss?“

von WALTRAUD SCHWAB

Deuflers sind weg. Auf einem einachsigen Karren, der an ein Fahrrad gespannt war, haben sie nach und nach ihre Sachen aus dem Haus getragen: schäbige Küchenmöbel, zusammengerollte Matratzen, einen grünbraunen Wohnzimmertisch mit Steinplatte, Vogelkäfig, Kinderschlitten, abgeschlagene Schränke, leere Blumenübertöpfe, Spüle, Herd. Das blaue Sofa auch. Über Wochen ging das so. Der dünne Deufler, die Zigarette im Mund, schleppte irgendwas die Treppe runter.

Deufler hatte mit Ramsch zu tun. Das war nicht neu. Immer wieder ist er mit seinem Karren auf den Flohmarkt geradelt. Da mal bepackt mit einer Gartenleuchte, da mit einer dreimal überstrichenen Bank, hin und wieder mit Kisten, in denen sich Handtaschen, Geschirr und Vorhänge stapelten. Den ganzen Krempel hatte er in der 100 Quadratmeter großen Wohnung im vierten Stock des Weddinger Mietshauses gehortet.

Das Runtertragen, Raufschleppen machte Deufler zu einem Mitglied der Gesellschaft. Wenn er vom Arbeiten sprach, vom „Malochen, Schuften, Ranklotzen“, spürte er, dass er wichtig war. Es war jene Wichtigkeit, die aus dem Nichts kam. Wollte sich keine Bedeutung einstellen, nahm Deufler auf halber Treppe einen Schluck Bier dazu.

Die Deuflers waren unten. Alkohol hat ihrem Abstieg jene Beschleunigung verschafft, die sie mit Wohlgefühl verwechselten. Weil Besserwisserei bereits das Terrain besetzt hatte, das unter günstigeren Umständen als Verstand bezeichnet wird, waren die Deuflers in der glücklichen Situation, dass sie nun in jeder Lebenslage Recht hatten. Die anderen Unrecht. Dazu gehörte, dass sie längst keine Miete mehr zahlten. „Ich will was Anständiges für mein Geld“, sagten sie und versoffen den Obolus des Sozialamts, der eigentlich an den Vermieter hätte gehen müssen, in der „Goldenen 33“ auf der anderen Seite der Straße. Dort fanden sie Gleichgesinnte. Schwankend hievten sie sich nach dem Besuch in der Kneipe gemeinsam die Treppe hoch.

„Ich bin neun, wie alt bis du?“, fragte der lispelnde Sohn und zeigte jedem, der es sehen wollte, seine Pokémon- und Digimonsammlung. „Hasss du auch Ssssammlung?“ Deufler hatte den Jungen aus dem Fenster werfen wollen, als er noch klein war. Ein Sondereinsatzkommando der Polizei stürmte damals die Wohnung. Blau geschlagen war die Deuflerin aus dem Haus geflohen, den Jungen habe sie kurz vor der Schlägerei noch in einen Schrank gesperrt. Für Deufler kein Hindernis. Um zu zeigen, dass er es ernst meinte, warf er vorab schon mal den Vogelkäfig durch die Scheibe. Später nahm die Deuflerin die Anzeige zurück. Die Familie war wieder intakt. „Mein Papa isss 43, meine Mama 49, mein Bruder 29. Wie alt bisss du?“

Der Junge hing oft auf der Treppe herum, wenn niemand zu Hause war. Manchmal schlief er nach der Schule auf den Stufen ein. Hörte er Schritte, rief er vorsichtig „Mama““. „Marcel, bist du wieder allein?“, fragten die Nachbarinnen vom dritten Stock. „Ich weisss nicht, wo Mama isss“, antwortete der Junge. „Möchtest du bei uns warten?“ Der Junge schaute durch die offene Tür der Wohnung der Nachbarinnen in deren Flur. „Issss das euer Haus?“, fragte er und versuchte, mehr zu sehen als Schuhe und Mäntel. „Ich darf nicht in dein Haus.“ Die Nachbarinnen gaben ihm dann was zu trinken. So gewannen sie sein Vertrauen. Brav brachte er später den Becher zurück.

Marcel, der Neunjährige, war zart und blond. Er erzählte ohne Scheu und immer aus dem Zusammenhang gerissen, was ihn bewegte. Unschuldig wirkte er, dabei war er ein Zündler. „Der will mich hauen!“, schrie er und flüchtete in den Hausflur. „Du darfsssss den nicht reinlassen“, sagte er und zeigte auf einen Jungen, der draußen vor der Haustür stand. „Du darfssss da jetzt nicht raus.“ Marcel hing meistens allein auf dem Spielplatz herum. Zusammengekauert saß er auf der obersten Stange des Kletterhauses. Ein Kauz. Großäugig. Ängstlich. Beseelt. „Hass du sson Pokémon gessammelt?“ oder: „Was hass du gekauft?“, fragte er die, die er erkannte.

Das Herz des Jungen, der erst mit sieben einigermaßen sprechen lernte, lief immer über. So erfuhr man Dinge, die einem sonst niemand sagt. Mit „Dem ssseine Alte isss wütend“ überraschte der Neunjährige eines Tages. „Was meinst du mit ‚Alte‘?“ „Na, die Alte. Die von mein Bruder. Nicht die Mama. Die Alte halt. Sie will, dass mein Bruder sie fickt. Aber der will nicht. Sie ruft immer an. Mensch, weisss du nicht, was eine Alte isss?“

Die Deuflerin ist klein und dick. Den vierten Stock schaffte sie kaum noch. „Papa, trag mich hoch!“, schrie sie manchmal durchs Treppenhaus. Der Deufler ist groß und dünn. Er hält sich wacker. Nur ab und zu tauchte der 29-jährige Sohn der Deuflerin auf. Der war von einem früheren Mann. Kam er, war Saufen angesagt. Dann ging es ab in dem Zimmer mit der New-York-Tapete, in dem die Glasscheiben durch Folie ersetzt waren. Jeder konnte das Drama verfolgen, denn über den Innenhof schallten die Wortfetzen, die schon als Fragmente den Abgrund mit Schockfarben ausmalten. „Gib ihm!“, wurde mit der Vehemenz von „Gib’s ihm!“ vorgebracht, „Hast du“ echote als „Hasst du“, „Hey, Alter, schau“ prallte als „He, alte Sau“ auf die gegenüber liegende Mauer.

Auf „da oben“ verständigten sich die Nachbarn und nickten sich wortlos zu. Solange die da waren, hatte jeder im Haus einen, auf den er herabsehen konnte. Weil die Saufereien nicht bis tief in die Nacht gingen, holte niemand die Polizei. Meist allerdings endeten die Gelage mit Krach. Dann torkelten der ältere Bruder und seine Kumpane die Treppe runter als Rinderherde. Am nächsten Morgen fanden sich die Spuren der Stampede auf den Stufen: mal Bierlachen, mal Schuhe, mal ein klebriges Handy. Nach jeder Orgie gab es eine Zeit, in der das Maß wieder zurechtgerückt wurde. Dann ging Deufler auf den Trödel, dann ging er zu Behörden, einmal holte er gar die Bauaufsicht in seine Wohnung, weil in der Decke zum Dachboden ein Loch war. Das habe der allerälteste der drei Söhne der Deuflerin zwar selbst in die Decke geschlagen, um Diebesgut zu verstecken, aber weil dies schon lange her war, besann sich Deufler auf die Verantwortung des Vermieters. Die Bauaufsicht sah das auch so. Für Deufler war es ein Glückstag, weil er Recht hatte. Danach schleppte er sein Gerümpel die Treppe runter und erzählte jedem, der es hören wollte, dass es im Haus immer schlimmer werde.

Auch an jenem Tag, als der Junge unten im Flur auf die Nachbarin traf, war Deufler mit Runtertragen beschäftigt. Kurz vor Weihnachten war das. „Du kannss da nicht hoch. Mein Vater ssssleppt unssser Ssssrank runter. Wir hauen ab“, erzählte Marcel. „Ihr haut ab?“ „Ja, in die 103. Mein Bett isss ssson da.“ Deufler kam mit einem braun gestrichenen Küchenschrank, der die ganze Breite des Treppenhauses ausfüllte, angekeucht. Der Kleine hielt ihm das Tor auf, als er wegfuhr.

Niemand weint den Deuflers eine Träne nach. Der Vermieter atmete auf, als er „abhauen“ hörte, weil in einem Mietshaus nichts geheim ist. Für ihn war es ein Segen, eine Einsicht, eine glückliche Fügung, ja sogar ein Wunder. „Reisende soll man nicht aufhalten.“ Nur die Schlüssel bekam er nicht, da ließ er die Wohnung aufbrechen. Und fotografieren. Deuflers hatten alles im Reisegepäck, was brauchbar war, auch Spüle, Steckdosen, Sicherungen, Herd, und all das zurückgelassen, was unbrauchbar.

Marcel, der Neunjährige, sitzt noch immer hin und wieder auf der obersten Stange des Klettergerüstes auf dem Spielplatz am Ende der Straße. Aber schon nicht mehr als Kauz, sondern als streunende Katze.

Alle Namen wurden von der Redaktion geändert

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