: Stalins Erektion und Ideengefäß
PDS-Mitglied in Neustrelitz, und auch mal ein Kommentar im „ND“. Am Ende aber bleibt immer ein von Frauen und Genossen verlassener alter Mann, der mit den Zuständen hadert und im Winter lausig friert: Ein Besuch bei Hermann Kant anlässlich der Veröffentlichung seines neuen Romans „Okarina“
von ANDRÉ MEIER
Hermann Kant hat eine Suppe gekocht. Mit Fleischklößchen. Kaffee gibt es auch. Und freundliche Hinweise. Man solle etwas lauter sprechen. Er höre schwer, trotz der Geräte, die, wie wir ja nicht übersehen können, in beiden Ohren stecken. Wir nicken, immerhin hat der Mann im letzten Jahr seinen 75. Geburtstag gefeiert. In unserem imaginären DDR-Museum sitzt er dagegen ewig schon als knabenhafter Mittvierziger mit kantiger Brille neben einem lachenden Honecker: Kunst und Macht Schulter an Schulter. Natürlich wussten wir schon damals, genauso wie die beiden, die da fröhlich Arsch an Arsch hockten, dass dies eine Chimäre war.
Mag sein, dass unser Gegenüber Recht hat, mag sein, dass dieser Honecker, wie er sagt, dann und wann ein offenes Ohr hatte und sich zugänglicher als sein Vorgänger Ulbricht gab. Aber wen bitte interessiert das noch? Schnee von gestern. Der eine liegt ewig schon in Berlin-Friedrichsfelde, der andere ist ein Häufchen Asche im fernen Chile, und Kant, zwölf lange Jahre Präsident des Schriftstellerverbandes der Deutschen Demokratischen Republik, bittet uns um Verständnis für die Geräusche, die seine künstlichen Herzklappen von sich geben. Dann kommt die Geschichte von der jungen Frau im Fahrstuhl, die ihn ob dieses leisen mechanischen Tickens misstrauisch beäugte, weil sie glaubte, er führe einen Sprengsatz mit sich.
Nein, auch wenn Kant das System nicht sonderlich mag, in dem er wider Erwarten seinen Lebensabend verbringen muss – ein Terrorist ist er nicht. PDS-Mitglied im Ortsverband Neustrelitz, das schon, hin und wieder ein Kommentar im Neuen Deutschland oder eine Kolumne in konkret, das auch. Bärbeißigkeiten ja, aber doch keine Bomben. Dass er den Helden seines jüngsten Romans einen Schläfer nennt, hat nichts zu sagen, war Zufall, nicht Berechnung oder gar Sympathie mit den WTC-Bruchpiloten.
Glauben wir. Auf dem Tisch liegt der New Yorker, eines der Kant-Kinder studiert in den USA, und außerdem wissen wir, wie lange schon Kant mit dem Verlag und der Verlag mit ihm gerungen haben. Um Umfang und Titel jenes Werks, welches jetzt abgespeckt noch immer fast 500 Seiten zählt und statt „Fazit“ „Okarina“ heißt.
Wenn schon nicht bei der Länge, so behielt Kant wenigstens beim Titel die Oberhand. Wer täglich in seinem Latte macciato rührt, kennt dieses merkwürdige Wort vielleicht aus dem Italienischen, wo es, in der Mitte mit c geschrieben, das putzige Gänschen meint. Mit k wie bei Kant dagegen steht es für jenes kleine vogelförmige Blasinstrument, dem man flötengleich jene Töne entlocken kann, die sich vereinzelt auch unter der Rubrik Worldmusic in gut sortierten Plattengeschäften finden.
Kant kennt seine Leser und weiß nur zu gut, dass er denen weder mit musikethnologischen Spitzfindigkeiten noch mediterranen Tier- oder gar yuppiesken Coffeeshopgeschichten kommen darf. Die wollen, auch wenn sie Golf fahren, Schäferhunde lieben und Al Bano & Romina Power hören, härteren Stoff. Und so ist die Okarina, in die bei Kant geblasen wird, eine russische und der, der sie bläst, kein geringerer als Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili, von Freund und Feind Stalin genannt.
Die Geschichte, die Kant erzählt, lässt sich in fünf Sätzen skizzieren: Wir sind in Warschau, der Krieg ist aus. Mit uns der Ich-Erzähler und Held des Romans, ein junger Wehrmachtssoldat, der hier in polnischer Kriegsgefangenschaft zum Antifaschisten und Kommunisten reift. Über seine Heimatstadt Hamburg kommt er in die DDR, wo er als Lehrer, Schriftsetzer, Redakteur und vor allem Genosse über jene Abgründe balanciert, die dort weithin sichtbar zwischen proklamiertem und tatsächlich existentem Sozialismus klaffen. Dabei fällt er auf die Schnauze, rappelt sich wieder auf, um sich dann endgültig heillos zu verstricken und am Ende ohnmächtig mit ansehen zu müssen, wie die Geschichte all das, wofür er mehr als vier Jahrzehnte stritt, im Lokus verschwinden lässt. Übrig bleibt ein von Frauen und Genossen verlassener alter Mann, der mit den Zuständen hadert und im Winter lausig friert, weil das Haus, in dem er auf den Tod wartet, nur die dünnwandige Datscha ist, die er sich in besseren Zeiten an einen See im Mecklenburgischen setzen ließ.
Die Fabel ist nicht neu. Vieles von dem, wovon Kant in „Okarina“ spricht, haben wir ähnlich schon in „Aufenthalt“, in „Aula“ oder „Abspann“ lesen können. Denn natürlich ist auch die Geschichte, die Kant hier erzählt, nur die, die ihm das Leben selbst diktierte. Und so sitzen wir nun in dem beschaulichen Nest, dessen Topografie wir längst kennen, in dem Sommerhaus, in dem Kant, wie wir im Roman gelesen haben, um Miete zu sparen, ganzjährig wohnt, und fragen uns, und dann auch ihn, wie viel Autor und Helden überhaupt noch trennen.
Die Antwort bleibt vage. Also zurück zum Buch und zum großen Stalin. Denn sooft auch Kant über den Wandel vom Wehrmachts-Saulus zum SED-Paulus gesprochen hat, noch nie spielte dabei der Kreml-Chef persönlich eine Rolle. Diesmal aber greift der blutige Diktator persönlich nach dem zerzausten Kopf des jungen Deutschen. Eines Nachts holt er ihn unbemerkt aus Warschau nach Moskau, um ihm in seinen Gemächern etwas vorzuflöten. Fortan tanzt Kants Held nach Stalins Pfeife. Daran ändert sich auch nichts, als ihm der Dichter als antistalinistische Marienerscheinung die blutjunge Norma Jane an die Seite setzt. Denn statt kopulierend zu konvertieren, bewundert der nunmehr bolschewistische Landser ganz platonisch ihre Anmut, um hinfort von einem Sozialismus in den Maßen Marilyn Monroes zu träumen.
So surreal angefixt schreitet der Held als „Stalins Ideengefäß“ hinaus in die Welt, getrieben von der großen historischen Mission, von der Leidenschaft für Filme aus Hollywoodkino und Frauen in Uniformen. „Männerfantasien“, so der Autor. Was leider breitbeiniger klingt, als es sich am Ende liest. Und auf unsere Verwunderung, warum er die aufkeimende Erektion seines properen Antifa-Aktivisten beim Anblick ein paar schmucker, in Stiefelschäften steckender, ebenso weiblicher wie polnischer Oberleutnantswaden unter einem Satz begräbt, der nicht nur über zehn lange Buchzeilen geht, sondern auch noch Rilke, Rodin und den Großen Brockhaus beschwört, kommt aus Kants Mund nur die lapidare Antwort: Dies sei für ihn nun mal Sinn und Zweck von Literatur.
Nun ja, so etwas kennt man ja aus der Werbung, für den einen ist es nur Duplo, für den anderen die längste Praline der Welt. Und vielleicht, so denken wir, sind das die Spätfolgen jener DDR-Zensurpolitik, die auch unser Gegenüber über Jahre mitgetragen hatte. Da wird selbst noch die simpelste Wahrheit so kunstvoll eingewickelt, dass der vom vielen Auspacken völlig geschlauchte Leser am Ende fast zwangsläufig glauben muss, was er in den Händen hält, sei der Stein der Weisen.
Natürlich, und darauf kann Kant zählen, gibt es zwischen Ostseeinseln und Thüringer Wald ein Publikum, das solch Kärrnerarbeit zu schätzen weiß. Leute, die mehrstündige SED-Generalsekretärsreden über sich ergehen lassen konnten, in der Hoffnung, irgendwo ein Komma zu hören, das sich vielleicht als Andeutung auf die Aussicht werten ließ, die Wartezeit auf einen Pkw Trabant verringere sich eventuell von zehneinhalb auf neundreiviertel Jahre, nennen ihren Kant gern virtuos oder wortgewaltig.
Andere wiederum halten ihn schlicht für einen Schwätzer. Oder sie nennen ihn Verräter. Was sich dann aber weniger auf Kants Umgang mit der deutschen Sprache als auf seine Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit bezieht. Seit 1992 muss Kant mit dem Vorwurf leben, er hätte nicht nur als DDR-Kulturfunktionär offiziell, sondern auch als IM verdeckt mit der Stasi zusammengearbeitet.
Lange hatte Kant prozessiert, jetzt ist er endlich dabei, auch dieses Kapitel literarisch aufzuarbeiten. In „Okarina“ lässt er seinen Helden im Berliner Stadtbad Mitte ein paar Runden drehen, während neben ihm ein Stasi-Obrist planscht und das beginnt, was man wohl als Anwerbungsgespräch bezeichnen muss. „Ich wusste, dass zur Unterdrückungsmaschine, die der Staat als solcher ist, spezielle Unterdrückungsmaschinen zählen, die ihm durchs Leben helfen. Ich konnte nicht gut einerseits für ihn sein und andererseits gegen das, was ihn nach meiner Ansicht schützen sollte.“
Kant ist darauf vorbereitet, dass seine Besucher genau zu diesem Thema intervenieren. „Ich vergnüge mich geradezu an der Idee“, grinst er, „dass Leute hier“, An- und Abführungsstriche werden in die Luft geschrieben, „Belege finden können, die sie im Leben nicht gefunden haben.“ Und natürlich fühlen wir uns ertappt, denn irgendwie haben wir tatsächlich geglaubt, Bekenntnisse wie das folgende entsprängen nicht der dichterischen Fantasie, sondern einem originären Gefühl der Reue: „Etliche der versammelten Nachrichten verdankten sich meinem Mitteilungsdrang. Ich hatte wem was geprahlt, der hatte wem das erzählt, der hatte es in sein Bild gefasst, dann hatte es als Bericht gepasst. Weniger böser Wille als schlechtes Benehmen lag vor.“ Ein russischer Dichter hat uns mal erzählt, in seine Lesungen kämen gerne und oft Frauen in kurzen Röcken, die sich dann in die erste Reihe setzten. Oft hätten sie auch den Slip zu Hause gelassen, in der Hoffnung, der Autor sei ein genau so skrupellos polygames Monster wie die meisten seiner Helden. Hin und wieder, und vorausgesetzt, die Gattin war nicht in der Nähe, so wussten wir, tat der Mann einiges, um die Erwartungen seiner Leserinnen nicht zu enttäuschen. Bei Kant läuft es ähnlich. Auch er lässt, wenngleich mehr der eigenen angeschlagenen Reputation denn fremder Röcke wegen, Literatur und Leben nach Belieben zusammen- oder auseinander laufen.
Selbst wenn uns in der mecklenburgischen Idylle allmählich kalt wird, weil im Falle des Ofens, dessen beschränkte Heizleistung Kant in seinem Roman ausführlich und unter Anrufung Tucholskys, Rockefellers, Johannes R. Bechers und eines Rabbis auf den Seiten 447 bis 463 beschreibt, Dichtung und Wahrheit ziemlich eng beieinander lagen.
Was folgt, ist freundliches Händeschütteln und ein letzter Blick in jene Hütte, von der Kant seinen des Lebens müden Ich-Erzähler sagen lässt, dass er sie neuerdings aufräumt, „damit es dann hier nicht so aussieht“.
Hermann Kant: „Okarina“. Aufbau Verlag, Berlin 2002. 463 Seiten, 22,50 €
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