: Siedlungen sind Kriegsverbrechen
Die Eskalation im Konflikt zwischen Israel und Palästina ist das Lebenswerk von Scharon: Kein anderer Politiker hat sich so sehr für die Besiedlung der besetzten Gebiete eingesetzt. Doch angesichts der Terroranschläge gibt es nur eine Lösung: Israel muss das seit 1967 eroberte Territorium zurückgeben
von AVI MOGRABI
Ich sitze vor dem Fernseher und schaue mir eine Übertragung des Kabelsenders al-Dschasira an. Die israelische Armee, unsere Armee, hat den Sitz von Jassir Arafat in Ramallah umstellt, ist in das Gebäude eingedrungen und hat unvorstellbaren Schaden angerichtet. Die israelische Regierung ist zu einer groß angelegten Militäroperation entschlossen, für die sie extra Soldaten braucht. 20.000 Reservisten wurden bereits eingezogen.
Ich bin kein großer Freund des israelischen Ministerpräsidenten. Doch nehmen wir einmal an, auch ich wäre der Meinung, dass man den Terror nur mit Gegengewalt bekämpfen kann. Nun frage ich mich, wie man dieses Ziel ausgerechnet mit der Isolierung Arafats erreichen soll? Warum sollte dieses Vorgehen den nächsten Selbstmordattentäter stoppen? Wie kann die Isolierung des Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde denjenigen Hoffnung zurückbringen, die diese Hoffnung längst verloren haben und deshalb entschlossen sind, unser Leben so unglücklich zu machen wie ihr eigenes? Hätte Scharon das israelische Militär angewiesen, die Stützpunkte und Sprengstofflager ausfindig zu machen, die Handlanger und die Ausführenden der terroristischen Aktionen festzunehmen – dann hätte jeder, der an die Durchsetzungskraft des Militärs im Kampf gegen den Terror glaubt, weiter auf eine Eindämmung des Terrorismus hoffen können. Indem Scharon aber Arafat praktisch wie in einem Käfig einsperren ließ, hat er nur mehr Anreiz geschaffen, dass der nächste Selbstmordattentäter neues Leid bringt.
Es ist eine traurige Wahrheit: Scharon kann weder den Palästinensern noch den Israelis irgendwelche Hoffnungen geben. In den 29 Jahren seiner politischen Laufbahn hat er nicht die geringste Ahnung gehabt, wie er den israelisch-palästinensischen Konflikt auf friedlichem Wege lösen könnte, noch hat er sich je darum bemüht, die bereits ausgehandelten Friedensverträge mit Ägypten und Jordanien zu unterstützen. Er kann es auch gar nicht – wenn sein ganzes Lebenswerk darin besteht, für mehr jüdische Siedlungen in besetzten Gebieten zu sorgen, dann hat er auch nichts zur Lösung eines Konflikts beizutragen, der genau in der Existenz dieser Siedlungen besteht. Das ist sein Lebenswerk: Kein Politiker in Israel hat sich mehr um die jüdischen Siedler auf besetztem Boden verdient gemacht. Seit seinen frühen Tagen als Landwirtschaftsminister 1977 ist Scharon die treibende Kraft hinter der Konfiszierung und Besiedlung von Land im Gaza-Streifen und im Westjordanland gewesen. Er war es, der Israelis glauben ließ, dieses Land sei ihr Land – unser Land.
Insofern zweifle ich sehr, ob es wirklich Scharons Ziel ist, den Terror zu stoppen und Friedensgepräche zwischen Israel und Palästina neu zu beginnen. Sollten die Verhandlungen in Bewegung kommen, wäre Scharon mit der entscheidenden, wenn nicht einzigen Frage konfrontiert, um deren Lösung es geht: die Zukunft der Siedlungen. Ich glaube deshalb fest, dass er alles daran setzt, Wege zu finden, um sich dieser Frage nicht stellen zu müssen.
Es ist verrückt, aber niemand erwähnt noch, dass die Siedlungen in den besetzten Gebieten selbst Kriegsverbrechen sind. Nach der vierten Genfer Konvention, Artikel 49, dürfen durch die Besatzermacht „Zivilisten nicht vertrieben oder deportiert werden und keine eigene Zivilbevölkerung angesiedelt werden“. Als Israel vergangenes Jahr um die Teilnahme am internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag gebeten wurde, sagte man zwar zu, wollte aber die entsprechenden Abschnitte bezüglich der Genfer Konvention ausklammern. Tatsächlich hat Israel an die 200.000 Juden in den besetzten Gebieten angesiedelt – das gilt es für den Ministerpräsidenten zu verteidigen.
Scharon hat erklärt, dass seine Entscheidungen allein darauf abzielen, weitere Morde durch palästinensische Terroristen an der israelischen Bevölkerung zu verhindern. Doch während seines ersten Amtsjahres wurden über 300 Israelis bei Terroranschlägen getötet, das sind mehr als in jedem anderen Jahr seit der Gründung des Staates Israel vor 54 Jahren. Zu dieser Erinnerung kommen noch andere Fakten: In den elf Monaten, bevor Scharon den Libanon-Krieg 1982 anzettelte, war nicht ein einziger Israeli an der Grenze zum Libanon getötet wurden; dagegen kamen bis Mai 2000 in den 18 Jahren, in denen Israel Teile des Libanon besetzt hält, über 1.000 Israelis im Kampf oder durch Terroranschläge im Libanon oder im Norden des eigenen Landes um. Selbst ein Unterstützer der Scharon-Politik muss zweifeln, dass er weiteres Blutvergießen an den Juden verhindern kann. Ganz zu schweigen von den vielen libanesischen und palästinensischen Opfern, die Israels Militäraktionen während des Libanonkriegs und der noch anhaltenden Intifada gekostet haben.
Wenn es also unser aller Wunsch ist, dem Blutvergießen auf beiden Seiten ein Ende zu bereiten, dann sollte man überlegen, ob nicht womöglich Scharon isoliert und aus seiner Machtposition entfernt werden muss – auf demokratischem Wege natürlich. Deshalb rufe ich den kommenden Ministerpräsidenten von Israel – da ich keine große Hoffnung habe, dass Scharon meinem Vorschlag nachkommen wird – hiermit auf, innerhalb von zwölf Monaten nach seiner Wahl alle israelischen Siedlungen und das Militär aus den besetzten Gebieten zu entfernen. Ohne Ausnahme.
Avi Mograbi ist Filmemacher und lebt in Tel Aviv. Sein Film „August“ wurde auf der Berlinale 2002 mit dem Friedensfilmpreis ausgezeichnet. Übersetzung: Harald Fricke
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