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Uniformierte Zivilgesellschaft

Die Debatte um die allgemeine Wehrpflicht wird seit Jahren mit den gleichen Argumenten geführt. Ein Blick in Ute Freverts neues Buch über die „kasernierte Nation“ dürfte das Spektrum erweitern

Das Klischee von der erotisierenden Kraft der Uniform darf man getrost bezweifeln

von JAKOB VOGEL

Die Positionen zur Wehrplicht sind seit Jahren betoniert: auf der einen Seite die Verfechter einer Interventionsarmee mit Berufssoldaten, die für Auslandseinsätze gerüstet sein muss; auf der anderen die Anhänger der allgemeinen Wehrpflicht und damit einer „Bürgerarmee“, die vor allem der Landesverteidigung dienen soll. Die derzeit hoffnungslose Situation der Bundeswehr verdankt sich einer fatalen Mischung aus beiden Positionen. Weder die 1998 von den Grünen zaghaft ins Spiel gebrachte Idee eines zivilen „Friedenskorps“ noch die Diskussion um die „humanitären Einsätze“ der Bundeswehr im Ausland konnte daran etwas ändern.

Die allgemeine Denkblockade lässt sich vielleicht dadurch erklären, dass kaum einer ausreichend Bescheid weiß über die komplexen Zusammenhänge, die seit Jahrhunderten die Entwicklung von Militärdienst und Zivilgesellschaft charakterisieren. Insofern ist es ein Glücksfall, dass das Buch der Historikerin Ute Frevert über die „kasernierte Nation“ nun eine außergewöhnlich fundierte und zudem angenehm lesbare Grundlage für die Debatte bietet.

Das Schwergewicht ihrer Studie legt Frevert auf die Entstehung der allgemeinen Wehrpflicht im Preußen der „Befreiungskriege“ und ihre spätere Ausbreitung in den anderen deutschen Staaten während des 19. Jahrhunderts. Dabei widmet sie ein besonderes Augenmerk den Geschlechterbildern, die in der deutschen Gesellschaft mit dem „Waffendienst fürs Vaterland“ verbunden waren. Denn militärisches Heldentum, das der Dienst mit der Waffe den männlichen Soldaten versprach, war schon im Kampf gegen Napoleon stets mit Vorstellungen über den spezifischen Beitrag der Frauen für die Wehrbereitschaft der Nation verknüpft. In patriotischen Gedichten und Liedern erschienen sie als Mütter zukünftiger Helden oder als tapfere „Soldatenbräute“, die den geliebten Männern „Mut und Kraft“ einflößten und sie für den Kampf rüsteten. Anhand von Tagebuchaufzeichnungen und Briefen kann Frevert jedoch zeigen, wie wenig ein solches Idealbild des weiblichen Patriotismus der tatsächlichen Haltung vieler Frauen jener Zeit entsprach. Auch an dem klassischen Klischee von der erotisierenden Kraft der Uniformen darf man getrost zweifeln.

Das neue Ideal einer allgemeinen männlichen Kampfbereitschaft für König und Vaterland war daher von Anfang an umstritten. Viele Männer haben nach dem Ende der napoleonischen Kriege das Fortbestehen der Wehrpflicht abgelehnt. Konservative Gegner fürchteten die Ausweitung des Soldatenstandes um „unwürdige Elemente“, während die traditionell militärfernen Städter und Gewerbetreibenden die neue Bürgerpflicht als eine Zumutung für ihre Lebensplanung empfanden. Ausnahmeregelungen für Bürger- und Bauernsöhne sollten die Zwangsmaßnahme des Staates auch für diese Gruppen tragbar machen. Darüber hinaus war die Übernahme militärischer Pflichten ohnehin eng mit dem Versprechen bürgerlicher Rechte verknüpft – was für Frauen bedeutete: Sie wurden aus der Politik ausschlossen.

Nicht zuletzt die zunehmende Gewöhnung an die Wehrpflicht führte dazu, dass der Dienst in der Armee mehr und mehr als „normaler“ Bestandteil des männlichen Lebenslaufs angesehen wurde. Nach der beträchtlichen Aufstockung der Militärstärke in den 1860er-Jahren gehörte daher gerade im Kaiserreich der wehrpflichtige Soldat zum Alltag in der Gesellschaft. Und umgekehrt führte dies auch dazu, dass die Armee sich nicht vollständig von den gesellschaftlichen Entwicklungen abkoppeln konnte. Dies betraf etwa den obligatorischen sonntäglichen Kirchenbesuch, den die Militärführung als ein unerlässliches Element zur Sicherung der Disziplin und Sittsamkeit der Rekruten ansah. Allerdings unterliefen selbst kommandierende Offiziere die offiziellen Anweisungen.

All diese Facetten der allgemeinen Wehrpflicht im 19. Jahrhundert schildert Frevert außerordentlich anschaulich und lebendig. Demgegenüber fallen die Abschnitte über die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg eher summarisch aus, bleiben zu stark an der Oberfläche der offiziellen politischen Konzepte, statt die Praxis der allgemeinen Wehrpflicht zu betrachten. Kaum deutlich wird etwa, welche Verhältnisse der „Staatsbürger in Uniform“ nach 1945 wirklich in den Kasernen vorfand. Kein unwichtige Frage: Schließlich legitimierte ebenjenes Bild des zivilisierten Soldaten nach 1945 die Wiederbewaffnung im Westen Deutschlands.

Diskussionswürdig an dem Buch ist vor allem Freverts Schlussfolgerung: Die allgemeine Wehrpflicht habe in Deutschland „die Entwicklung gesellschaftsbezogenen Bürgersinns blockiert“ und zudem „Geschlechterverhältnisse festgeschrieben, die sich den sozialen, ökonomischen und kulturellen Dynamisierungstendenzen der Moderne konsequent widersetzten“. Gerade für das 19. Jahrhundert ließe sich jedoch auch behaupten, dass die männliche Ordnung und Disziplinierung, die der „Waffendienst fürs Vaterland“ mit sich brachte, den Siegeszug der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft eher förderte als hemmte – wenn auch nicht zwangsläufig in einem demokratisch-freiheitlichen Sinne. Dennoch lässt sich darüber streiten, inwieweit die allgemeine Wehrpflicht noch unserem heutigen Verständnis der Gesellschaft und der ihr zugrunde liegenden Geschlechterverhältnisse entspricht. Für eine solch historisch fundierte Debatte bietet Freverts Buch eine exzellente Basis – auch wenn man ihre politischen Folgerungen nicht teilt.

Ute Frevert: „Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland“, 458 Seiten, Verlag C. H. Beck, München 2001, 34,90 €

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