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„Ein heilsamer Elektroschock“

Wer hat Le Pen stark gemacht? Waren es die sozial Vernachlässigten, war es die Jugend oder gar die französische Linke? Ein Gespräch mit dem Filmemacher Bertrand Tavernier über die Unzufriedenheit im Land und die sozialistische Vogel-Strauß-Politik

Interview DOROTHEA HAHN

taz: Was sagen Sie dazu, dass Le Pen möglicherweise französischer Präsident wird?

Bertrand Tavernier: Nein. Ich glaube, er kann es nicht werden. Ich teile diese Bestürzung nicht. Diese Sache könnte ein heilsamer Elektroschock werden. Sie kann die Jungen wecken. Das passiert gerade. Sie waren eingeschläfert. Verblödet.

Sie gebrauchen harte Worte gegen die Jugend.

Ich verbringe viel Zeit mit Schulklassen, die eine Ignoranz gegenüber der Geschichte kultivieren. Sie werfen mir vor, dass ich sie mit Filmen über den Ersten Weltkrieg nerve und über den Algerienkrieg. Ich sage ihnen, dass sie Le Pen nicht verstehen können, wenn sie den Algerienkrieg nicht kennen. Sie sind nicht in der Lage, eine Rede zwischen den Zeilen zu analysieren. Sie lesen keine Zeitungen, sie machen Videospiele und gucken Fernsehen. Die reale Welt interessiert sie nicht. Eine Klasse wachzurütteln ist extrem schwer. Abgesehen von den Mädchen. Die sind viel reifer als die Jungen.

Frankreich hat sich durch große soziale Bewegungen hervorgetan. Beispielsweise die gegen Rassismus und für Solidarität mit den Sans Papiers, an der auch Sie beteiligt waren. Was ist daraus geworden?

Diese Bewegungen gehen weiter. Es gibt Leute, die eine außergewöhnliche Arbeit machen, mit den Sans Papiers und gegen die Double Peine [die „Doppelstrafe“ für Einwanderer, die nach dem Absitzen ihrer Haftstrafe abgeschoben werden, d. Red.]. Das Problem dieser großzügigen Kämpfe ist, dass die Medien sich nicht mehr dafür interessieren. Sie berichten nicht darüber. Ein Teil dieser Aktivisten haben dieses Mal Besancenot [den Kandidaten der trotzkistischen LCR, d. Red.] gewählt, andere haben grün gewählt. Auf eine gewisse Art haben sie dazu beigetragen, Le Pen zu wählen. Aber ihre Stimme existiert. Zählen Sie die alternativen Stimmen zusammen und Sie haben ein Ergebnis, das stärker ist als Jospin.

Kann es sein, dass ein Teil Frankreichs die großzügigen Argumente der Antirassisten nicht hören will? Oder gar nicht versteht?

Ich bin kein Politologe. Mir fällt es schwer, auf diese Fragen zu antworten.

Aber wenn Sie mit Ihrem Film „Double Peine“ durch das Land ziehen, treffen Sie doch alle möglichen Leute …

Oft sind die Leute zuerst dagegen. Aber wir haben jetzt mehrere hunderttausend Unterschriften gegen die Double Peine gesammelt. Vor weniger als zwei Wochen sprachen sich 69 Prozent der Franzosen in einer Umfrage gegen die Doppelstrafe aus.

Diese Wahl hat auch punktuelle Erklärungen. Sie stellt nicht die Arbeit von tausenden in Frage. Nehmen Sie die mehr als eine Million jungen Leute, die Le Pen gewählt haben. Manche stellen jetzt fest, dass er gegen Techno ist, und werden nicht mehr für ihn stimmen. Das sind nicht eine Million Faschisten.

Soll das heißen, dass alles nicht so schlimm ist?

Diese Wahl ist eine Schande. Aber man muss aufhören, sich auf eine einzige Abstimmung zu konzentrieren. Warten wir ab.

Für Sie sind die Parlamentswahlen im Juni noch nicht verloren?

Ich hoffe, dass die PS jetzt offensiv wird. Sie muss eine Sprache sprechen, die die Leute erwarten. Statt allein zum Baron de la Seillière [dem Chef des Medef, Verband der französischen Patrons, d. Red.] zu reden, wie es ein Teil der Linken getan hat

Und Sie? Werden sie am 5. Mai Chirac wählen?

Natürlich.

Wenn selbst die Franzosen es nicht schaffen, einen derart massiven Zulauf zu Rechtsextremen zu verhindern, was muss dann in anderen Ländern geschehen – in Deutschland zum Beispiel?

Die Politiker der traditionellen Parteien müssen ein bisschen mehr kämpfen und ein bisschen mehr auf die Leute hören. Und sie müssen weniger Zeit mit Kommunikationsberatern verbringen, die ihnen idiotische Aktionen vorschlagen, die nur dazu dienen, Zeit im Fernsehen zu kriegen.

Bei meinen Filmen treffe ich häufig Militante, die von Politikern erzählen, die sie „vergessen“, sobald sie an die Macht gekommen sind, und die nur dann zu einem Hungerstreik von Sans Papiers kommen, wenn Fernsehkameras da sind. Diese Arroganz muss aufhören. Ich glaube, Jospin hat in dem Moment verloren, als er Séguela [einen Werbefachmann, d. Red.] engagiert hat.

Dieses Mal haben kaum Intelektuelle und Filmemacher den Kandidaten Jospin unterstützt. Halten Sie das rückblickend für einen Fehler?

Jospin hat seine Versprechen nicht gehalten. Er hatte ein Programm vorgeschlagen und hat es nicht gemacht. Also habe ich es abgelehnt, für ihn zu unterschreiben. Das bedauere ich überhaupt nicht.

Waren Sie von dem Wahlerfolg von Le Pen überrascht?

Nein. Ich habe das seit langem kommen sehen. Meine Filme handeln davon: „L. 627“ (Auf offener Straße, 1992), „L'appat“ (Der Lockvogel, 1995) , „Ça commence aujourd'hui“ (Es beginnt heute, 1999) oder „De l'autre côté du Périph“ (1998). Ich habe vor allem gespürt, dass die Linke an der Macht die sozialen Dringlichkeiten nicht ernst genommen hat.

Was hätte die linke Regierung tun sollen?

Zunächst einmal das Ausmaß der Gefahr ermessen. Als „Ça commence aujourd'hui“ fertig war, habe ich den Film Lionel Jospin gezeigt. Darin geht es um die Misere in der Welt, um den Kampf der Lehrer und um Leute, die nicht bekommen, was sie erwarten – Arbeit, Hilfe, Geld –, und zur Front National abdriften. Jospin war immer sehr sympathisch. Den Film fand er „zu schwarz“. Tatsächlich war seine Vision der Realität zu rosafarben.

Warum wählen die Franzosen Front National?

An manchen Orten haben die Leute das Gefühl, von den Parteien und von den Gewerkschaften im Stich gelassen worden zu sein. Die Jungen und die Arbeiter. Die Arbeiter sind verloren – gegenüber Europa, gegenüber der Globalisierung. In den Parteien an der Macht hat das niemand aufgegriffen. Es gab nicht die geringste Debatte. Es gab nicht die geringste Erklärung. Es gab nicht die geringste Bereitschaft, von der sozialen Realität zu sprechen. Und dann gibt es auch Junge, die aus einer Mischung aus Provokation und Ignoranz FN gewählt haben. Eine Art Respektlosigkeit gegenüber allem, was wie eine Autorität scheint. Aber ich glaube, dass es weniger die Rechtsextreme ist, die Fortschritte gemacht hat, sondern die Linke und die republikanischen Parteien, die ihre Arbeit nicht anständig gemacht haben.

Sie werfen der linken Regierung vor, nicht links genug gewesen zu sein. Im europäischen sozialdemokratischen Vergleich steht die Politik von Jospin aber am linken Rand?

Die Bilanz von Jospin ist auf verschiedenen Gebieten gar nicht schlecht. Aber abgesehen davon, dass er es nicht verstanden hat, das auch zu vermitteln, hat es ihm an Aggressivität gefehlt und vor allem am Willen, auf dem Terrain zu bestehen. Sobald es die geringsten Proteste gab, hat die Linke ihre Gesetze gestoppt. Nehmen Sie die Unsicherheit in der Gesellschaft. Natürlich ist das ein Problem. Aber es ist bekannt. Die Linke hätte viel schneller und entschiedener reagieren müssen. Die Linke hat mit Statistiken regiert. Nicht mit der Realität. Zwischen dem Alltag der Leute in Frankreich und der Art, wie er in die Statistiken gerät, liegt eine ganze Welt. Wenn die Leute über sehr präzise Probleme redeten – über Erpressungen an Schulen zum Beispiel –, bekamen sie nationale Durchschnitte und Zahlen als Antworten.

Was ist falsch an der Arbeitszeitverkürzung, einem Herzstück der Jospin-Politik?

Die 35-Stunden-Woche ist zweifellos ein Fortschritt. Aber Martine Aubry, die zuständige Ministerin, hat überhaupt nicht darüber nachgedacht, was es für soziale und Beschäftigungskonsequenzen haben würde. Erst als die Krankenschwestern in den Streik getreten sind, hat sie gemerkt, dass nun zigtausende Personen in den Krankenhäusern fehlen. Bei den Lehrern verhält es sich genauso. Die haben sich von Jospin abgewandt, wollten ihn erst im zweiten Durchgang wählen, weil er auf der Ebene von Lehrplänen, Sicherheit in den Schulen oder Arbeitsplänen ihres Erachtens nicht das Nötige getan hat. Viele Bauern haben den Eindruck, dass der Graben zwischen den Enarchen [den Absolventen der französischen Verwaltungseliteschule ENA, d. Red.] und den Leuten von Brüssel einerseits und ihnen andererseits immer tiefer wird. Wenn sie sagen: „Dieser landwirtschaftliche Betrieb ist in Gefahr“, bekommen sie den nationalen Durchschnitt zur Antwort. Die Linke hat Pariser Gesetze gemacht.

Was meinen Sie mit „Pariser Gesetzen“?

Die Parité [die Quotierung einiger politischer Ämter, d. Red.] ist eine gute Sache, aber sie ist weniger wichtig als die Beschaffung von Arbeitsplätzen und als die Rettung jener, die in finanziellen Schwierigkeiten stecken. Der Pacs [die Ersatzehe, die vor allem Homosexuelle in Anspruch nehmen, d. Red.] ist sehr gut. Aber es betrifft nur ein paar wenige Leute. Wohnungsrausschmisse und Stromabschaltungen und Obdachlosigkeit und die katastrophale Beschäftigungssituation und sinkende Löhne sind viel massivere Probleme. Da hat die Linke eine Vogel-Strauß-Politik gemacht.

Was macht Le Pen so anziehend?

Er kann reden. Er hat keine Kommunikationsberater. Ihm stehen Kandidaten gegenüber, bei denen es nichts Natürliches mehr gibt. Le Pen vermittelt den Eindruck – der wohlgemerkt falsch ist –, dass er die Wahrheit sagt, dass er sagt, was er denkt. Die anderen vermitteln den Eindruck, Texte zu rezitieren. Außerdem beutet er das Einfachste aus: den Hass des anderen. Das ist ein Ressentiment, das immer funktioniert hat.

Ihr letzter Film, „Laissez-Passer“, handelt von der Kollaboration. Sehen Sie bei dieser Wahl in Frankreich Parallelen zum 30. Januar 1933?

Ich sehe eher eine französische Parallele. Am 6. Februar 1934 waren die Leute auf der Straße und hätten beinahe die Macht ergriffen. Zwei Jahre später gab es eine Volksfrontregierung.

Wollen Sie jetzt eine Volksfrontregierung ankündigen?

Die Dinge können sich ändern. 1870 hatte Napoléon III. in einem Referendum eine gigantische Prozentzahl bekommen. Zwei Jahre später war Frankreich eine Republik. In den Jahren 1942 und 1943 ist Marschall Pétain [der Chef des Kollaborateursregimes von Vichy, d. Red.] von 70 Prozent der Franzosen unterstützt worden. 1944 waren alle für de Gaulle. Es gibt immer 30 Prozent der Leute, die sehr leicht von einem Lager ins andere wechseln. Zum Glück ist nichts irreversibel.

Werden Sie eines Tages einen Film über diese historische Wahl machen?

Das weiß ich nicht. Ich habe Filme gemacht, die das angekündigt haben. Alles, was in der Polizei passiert ist, habe ich in „L. 627“ angekündigt. Der Mangel an Verantwortungsbewusstsein eines Teils der Jugend, der fasziniert von Bildern ist und abgekoppelt von der Realiät, ist das Thema von „L'Appat“. Über das ganze Elend des Nordens, der zur Front National umgekippt ist, haben wir in „Ça commence aujourd'hui“ das Alarmsignal gezogen. Im Übrigen mache ich auch Filme als künstlerisches Engagement. Nicht nur aus staatsbürgerlicher Verpflichtung.

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