: Das Ende der Schamfrist
Wahlkampfthema Erfurt: Beckstein kritisiert Rot-Grün, Schily hält dagegen
von LUKAS WALLRAFF
Die Zurückhaltung währte nicht einmal drei Tage: Der Amoklauf von Erfurt ist zum Wahlkampfthema geworden. Politiker aller Parteien überbieten sich in Forderungen nach einer Verschärfung der bislang geltenden Gesetze. Aber damit nicht genug. Seit gestern tobt auch ein Streit über die vermeintlichen Ursachen des bisher schlimmsten Amoklaufs in Deutschland. Zwischen Berlin und München, zwischen Union, SPD und Bündnisgrünen werden Schuldzuweisungen ausgeteilt und prompt empört zurückgewiesen.
Das politische Klima ist schon wieder vergiftet, noch ehe die 17 Toten von Erfurt begraben wurden. Daran ändern auch die eher bedächtigen Äußerungen von Bundeskanzler Gerhard Schröder und seines Herausforderers Edmund Stoiber wenig. Während Stoiber bei seinem Kondolenzbesuch gestern in Erfurt noch von einer „Stunde des Mitfühlens und der Anteilnahme“ sprach, sah sein Stellvertreter im bayerischen Kabinett, Innenminister Günther Beckstein (CSU), bereits die Stunde gekommen, um seinen persönlichen Wahlkampf als Bundesinnenminister-Kandidat zu beginnen.
„Killerspiele“ verbieten
Beckstein warf der Bundesregierung vor, nichts gegen die Verbreitung von gewaltverherrlichenden Video- und Computerspielen getan zu haben. Schon im Februar 2000 habe der Bundesrat gefordert, solche „Killerspiele“ zu verbieten, wie sie in der Wohnung des 19-jährigen Amokläufers Robert Steinhäuser gefunden wurden. „Und wenn darauf in einer so wichtigen Frage nicht reagiert wird“, sagte Beckstein, „muss man deutliche Worte finden: Das ist skandalöse Untätigkeit.“
Die Reaktion aus Berlin ließ nicht lange auf sich warten. „Geradezu abenteuerlich“ und „unerträglich“ seien die Vorwürfe, sagte Bundesfamilienministerin Christine Bergmann (SPD) gestern. Schon vor eineinhalb Jahren habe sie eine Jugendschutz-Gesetzesnovelle vorgelegt, die Kinder und Jugendliche besser vor Gewaltdarstellungen schützen könnte. „Herr Beckstein scheint vergessen zu haben, dass die Gesetzesnovelle allein durch die Blockade Bayerns verhindert wurde, weil Bayern eine Zuständigkeit des Bundes im Jugendmedienschutz in Frage stellte.“
Bergmanns Sprecherin sagte gegenüber der taz, die Ministerin „wollte und will die Gesetzesnovelle noch in dieser Legislaturperiode“. Es sei beklagenswert, dass es „bisher keine Jugendschutzregelungen bei Computerspielen“ und im Internet-Bereich gebe. Das soll sich aber ändern: „Die technischen Voraussetzungen für eine Alterssicherung gibt es bereits.“ Bei den Computerspielen wolle Bergmann wenigstens eine Alterskennzeichnung einführen, sagte ihre Sprecherin. Leider habe Bayern aber erst im März 2002 einer Neuordnung der bisher „zersplitterten Zuständigkeiten von Bund und Ländern“ zugestimmt.
Vorwurf der Heuchelei
Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) griff seinen Gegenspieler direkt an. Becksteins Kritik sei „schamlos und unanständig“. Über den fränkischen Kollegen, mit dem er bisher eine herzliche Männerfreundschaft pflegte, sagt Schily jetzt: „Der hat sich schon auf den ersten Metern disqualifiziert für eine Aufgabe auf Bundesebene.“
Auch über eine weitere Reform des gerade erst im Bundestag beschlossenen Waffenrechts streiten sich Rot-Grün und die Union. Schily hatte vorgeschlagen, den Waffenbesitz für 18- bis 21-Jährige zu erschweren. Auch Unionspolitiker fordern seit dem Amoklauf ein neues Waffenrecht.
Das wiederum stößt den Grünen sauer auf: Noch vorige Woche habe es die Union als Erfolg gefeiert, dass sie weitergehende Verschärfungen verhindert habe, sagte ihr Rechtsexperte Volker Beck. Es sei der „Gipfel der Heuchelei“, dass die Union nach Erfurt „kurzerhand ihre Kritik am rot-grünen Gesetzentwurf von ihrer Website gelöscht“ habe. Wie auch immer: Nach Ansicht von Experten reicht eine höhere Altersgrenze ohnehin nicht aus. „Als Privatpersonen sollten auch Mitglieder in Schützenvereinen keinen Zugang zu ihren Waffen haben“, sagte Reinhard Kreissl vom Hamburger Institut für Sicherheits- und Präventionsforschung der taz. Für ihn lautet die Schlussfolgerung aus Erfurt: „Altersgrenze rauf und ein Verbot, Waffen in Privatwohnungen aufzubewahren.“
MITARBEIT: ANGELIKA HENSOLT
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