piwik no script img

Schröder macht den Lafontaine

aus Berlin JENS KÖNIG

Falls die SPD doch noch die Bundestagswahl gewinnen sollte, wird der 13. Mai schuld daran sein. Wenn führende Sozialdemokraten über diesen Tag reden, bekommen sie leuchtende Augen. Für Generalsekretär Franz Müntefering, den obersten Wahlkämpfer der Partei, ist dieser Tag mindestens so wichtig wie die Geburt von Jesus Christus und der Mauerfall zusammen.

Seine Sätze beginnt er seitdem mit „Vor dem 13. Mai …“ und „Nach dem 13. Mai …“ Nach dem 13. Mai hat es für die SPD nur noch gute Tage gegeben, so viel steht für Müntefering fest. Der Parteitag am Sonntag in Berlin soll ein ganz besonders guter werden. Und alles, was vor dem 13. Mai war? Ist für ihn kein Thema mehr. „Darüber sollen Leute Bücher schreiben, die das besser können als ich“, sagt er. In diesem Moment ist er stolz darauf, kein Abitur zu haben.

Eine dieser guten Tage war auch der zurückliegende Sonntag. In Nordrhein-Westfalen hat die Partei, die dort durch den Kölner Spendenskandal besonders gebeutelt ist, ihren Wahlkampf eröffnet. 1.500 Genossen waren nach Duisburg gepilgert. Allein das reichte der Parteiführung schon als Beleg dafür, dass die Basis endlich aufgewacht ist. „Normalerweise kommt keiner, wenn ich Sonntagmorgen um 10 Uhr eine Rede halte“, sagt Müntefering. Das glaubt man ihm gern. Trotzdem war es interessant, zu beobachten, wie sich die NRW-SPD selbst Mut machte – durch demonstratives Klatschen nach jedem zweiten Satz und durch Reden, die sozialdemokratischer nicht sein konnten. Von Ängsten war viel die Rede, von Zusammenhalt, von Gerechtigkeit. „Wer sich nicht dort kümmert, wo die einfachen Menschen zu Hause sind“, sagte Landeschef Harald Schartau, „der braucht mit der Diskussion über Europa und die Globalisierung gar nicht erst anzufangen.“

Ganz genau kann man eigentlich gar nicht sagen, was an diesem schier historischen 13. Mai passiert ist, dass die Partei plötzlich wieder so sozialdemokratisch daherkommt. Die SPD-Spitze hatte rund 300 SPD-Funktionäre nach Berlin geladen. Gerhard Schröder hielt eine Rede, und als alle wieder den Raum verließen, war die Mauer plötzlich gefallen. Die SPD hatte freie Sicht auf das, worum es im Wahlkampf wirklich geht.

Der Kanzler spürte an diesem Tag wohl zum ersten Mal so richtig, dass er eine Strategie besitzt, die für die restlichen vier Monate bis zum 22. September taugen könnte. Umfrageergebnisse nur knapp über 30 Prozent, das Wahldesaster in Sachsen-Anhalt, ein Edmund Stoiber, der sich beharrlich weigert, so rechts zu werden, wie er noch nie war – auch dem letzten Genossen war klar geworden, dass das bloße Regieren als Ziel und ein bisschen Schröder in der letzten Phase des Wahlkampfs zum Sieg nicht reichen würden. Die Betriebstemperatur der großen alten Programmpartei war bei 10 Grad minus eingefroren.

Doch mit Schröders Rede war urplötzlich die Wärme in die SPD zurückgekehrt. Er machte den Genossen klar, gegen wen und worum es in diesem Wahlkampf geht. Gegen die Union – ihr Wahlprogramm sei unsozial und nicht finanzierbar. Gegen die FDP – sie wolle den Sozialstaat abschaffen und sei mit ihren antisemitischen Ausfällen auf dem Weg der „Haiderisierung“. Für das europäische Sozialstaatsmodell – es sei die einzige Antwort auf das „Gespenst des erstarkenden Rechtsextremismus“ und die „Ängste“, die die Globalisierung weckt. Aus dem „Er oder ich“ war über Nacht ein „Die oder wir“ geworden. Dass es in den letzten vier Wochen vor der Wahl doch wieder auf ihn ankommt, musste Schröder nicht extra betonen. Jeder weiß es. „Personalisierten Richtungswahlkampf“ nennt die Partei diese Mischung aus Kanzler und Programm jetzt.

Müntefering pflegt seit diesem Tag zu sagen, es sei genug analysiert, die Partei wisse alles, sie müsse jetzt arbeiten. Die neuen Botschaften des Kanzlers sollen im Juni auf über 100 Foren „in die Partei getragen werden“, wie sich der Generalsekretär gewohnt militärisch ausdrückt. So sollen vor allem die Stammwähler der SPD mobilisiert werden, die bis jetzt in einer Mischung aus Resignation und letzter Hoffnung auf den Kanzler gestarrt haben.

Das Planspiel der Parteistrategen sieht so aus: Bis zum Sommer soll der Abstand der SPD zur Union bis auf ein, zwei Prozentpunkte verringert sein. Im August und September, in der „heißen Phase“ des Wahlkampfes, soll die SPD dann endgültig vorbeiziehen. Trotz dieses stringenten Fahrplans rätselt die Partei natürlich weiter über die Ursachen für ihre schlechten Umfragewerte. „Unser Kernproblem liegt darin, dass wir Politik zu wenig emotionalisieren“, sagt Niedersachsens Ministerpräsident Sigmar Gabriel. „Wir sind zu sehr als Pragmatiker und Techniker der Macht dahergekommen.“

Das sehen viele andere in der Partei mittlerweile auch so. Die SPD hat sich mit ihrer nebulösen Konsenspolitik der Mitte von Teilen ihres Milieus entfremdet. Gerade die Stammwähler, die bei Schröders Wahlsieg 1998 nicht so sehr auf das Reizwort „Innovation“, sondern auf das von der „Gerechtigkeit“ reagiert haben, sitzen heute enttäuscht zu Hause und wollen nicht wählen gehen. Außerdem fehlt der SPD für das, was sie in den letzten drei Jahren geleistet hat, die innere Begründung. Das sieht Schröder selbst auch so. Er kann die vielen einzelnen Reformen nicht zu einer „sozialdemokratischen Erzählung“ bündeln, die die Genossen emotional anrührt.

Dazu kommt die Einschätzung, dass die rot-grüne Regierung der Partei vielleicht zu viel zugemutet hat: Kosovokrieg, Kampf gegen den Terror, Rentenreform, Steuerreform … Auch wenn man es dem General nicht zutraut – gerade für dieses Gefühl der Überforderung hat Müntefering Verständnis. Er war vor über zwanzig Jahren selbst in so einer Situation. In der Endphase der Regierung Schmidt war der Bundestagsabgeordnete Müntefering an einem Punkt angelangt, wo er beinahe alles hingeschmissen hätte. Helmut Schmidt, der Kanzler, war hart und herrisch. Er legte sich bei der Stationierung amerikanischer Pershing-II-Raketen in Deutschland fast mit der gesamten SPD an. „Ich war kurz davor, ganz aus der Politik auszusteigen“, so Müntefering.

Tausendmal hat er sich gefragt: Ist es verantwortlich, zu regieren, auch wenn man dabei Kompromisse machen muss und einem Fehler unterlaufen? Oder ist es nicht vielleicht doch besser, mit einem reinem Gewissen in der Opposition sitzen zu bleiben? Kurze Zeit später hatte sich die Frage von selbst beantwortet. 1982 musste die SPD in die Opposition. „Ich fühlte mich plötzlich ohnmächtig“, erzählt Müntefering.

Dieses einschneidende Erlebnis hat den jungen Bundestagsabgeordneten geprägt. „Regieren muss man wollen“, sagt Müntefering. „In der Opposition sitzt du immer ein bisschen auf Wolke sieben und träumst dir die Welt zurecht.“ Der SPD-Generalsekretär von heute weiß also, wie es im Kopf vieler Genossen aussieht. „Die stellen sich die gleiche Frage wie ich damals.“

Müntefering will sie überzeugen – so wie er sich damals überzeugt hat. Aber wie? Und mit wem? Ist nicht vielleicht doch Oskar Lafontaine an allem schuld, der vor seinem Rückzug die letzte sozialdemokratische Integrationsfigur war? Überhaupt ist in diesen Tagen in der SPD wieder viel von Lafontaine die Rede, der mit seinem neuen Buch durch die Talkshows zieht. Aber ein Ruf nach ihm wird in der Partei nicht laut, selbst bei den Linken ist er unten durch. In seinem Groll auf den einstigen Freund bringt Müntefering das Problem der SPD mit Lafontaine auf den Punkt. „Lafontaine war nie das soziale Gewissen der Partei“, sagt der Traditionssozi Müntefering, „aber nachdem er gegangen war, tat er so, als hätte die SPD die personifizierte soziale Gerechtigkeit verloren.“

Jetzt soll Schröder auf dem Parteitag den siegessicheren Sozi geben. Nicht der Hauptdarsteller einer Krönungsmesse wird er sein, vielmehr wird er sich als ernster Sozialdemokrat für ernste Zeiten präsentieren. Vor allem über soziale Gerechtigkeit in Zeiten der Globalisierung will er reden. Schröder ist überzeugt davon, dass er das kann. Schließlich kommt der Sohn einer allein erziehenden Putzfrau aus kleinen Verhältnissen. „Ich weiß, wo ich herkomme“, hat er diese Woche auf dem DGB-Kongress gesagt, „deswegen weiß ich auch, wo ich hingehöre.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen