piwik no script img

Rückwärtsgrüße an Ribbentrop

Im Zirkus der Vergangenheit: Gudrun Herrbold und Donald Becker haben für ihr Stück „4 alte Artistinnen“ mit vier Frauen gearbeitet, deren künstlerische Karrieren während der NS-Zeit, nach dem Krieg und in den frühen Jahren der DDR stattfanden

von ANNE KRAUME

„Hci nib nov ssuf sib fpok fua sträwkcür tlletsegnie“, singt die 84-jährige Käthe Denicke, und erst, als sie danach die Aufnahme ihres Tonbandgerätes rückwärts abspielt, bemerken auch die, die ihr zuhören, wie sehr sie damit Recht hat: „Ich bin von Fuß bis Kopf auf rückwärts eingestellt“, so klingt die Liedzeile nämlich umgekehrt. Käthe Denicke ist die einzige Frau auf der Welt, die in drei Sprachen rückwärts singen und sprechen kann: deutsch, englisch und japanisch. Sie lächelt und rückt den Ausschnitt ihres schwarzsilbernen Abendkleides zurecht, ehe sie von den Vorteilen des Rückwärtssprechens erzählt. Was als Geheimsprache zwischen ihr und ihren Schwestern begonnen hatte, hörte schnell auf, nur Zeitvertreib zu sein – im Gegenteil, schon vor siebzig Jahren konnte man mit dem Rückwärtssprechen Geld verdienen: Ein „Opusch“, der Käthe und ihre Schwester damals zu einer Geldbuße verdonnern wollte, weil sie bei Rot über die Straße gegangen waren, zog die Strafe schnell zurück, als sie sich mit ihrer fremden Sprache allem Anschein nach als Ausländerinnen entpuppten: „Dann konnten Sie das ja nicht wissen!“

Käthe Denicke ist eine von den „alten Artistinnen“, die in einer Inszenierung von Gudrun Herrbold und Donald Becker gemeinsam auf der Bühne des Podewil stehen. Der Theaterabend „4 alte Artistinnen“ porträtiert die privaten und künstlerischen Lebenswege von drei Frauen – die vierte Artistin, die im Titel der Inszenierung noch mitgezählt wird, ist im Laufe der Produktion ausgeschieden. Die Höhepunkte ihrer Karrieren haben die Frauen zwischen Nationalsozialismus, Kaltem Krieg und den frühen Jahren der DDR erlebt.

„Wir wollten etwas mit alten Menschen machen“, erklären die beiden Regisseure, „die Idee mit den Artistinnen ist erst im Laufe der Zeit entstanden.“ Der Wechsel zwischen Glamour-Auftritten und bürgerlichem Alltag macht die Perspektive der Artistinnen ungewöhnlich: Ihr Blick vom Zirkus und vom Varieté aus ist ein stets fremder Blick, um Bekanntes in neuem Licht zu zeigen. Einer der Gründe für das Projekt, präzisiert Becker, sei die Erkenntnis gewesen, dass Geschichte immer weniger sichtbar ist – besonders im Stadtbild von Berlin: „Immer mehr Details verschwinden, und das haben wir zum Anlass genommen, da noch mal drin rumzuforschen.“

In ihren Erzählungen betonen die drei Berlinerinnen dann unterschiedliche Momente in der Geschichte dieser Stadt. Käthe Denicke zum Beispiel musste bei ihrer Bewerbung am Kabarett der Komiker im Jahr 1940 noch ihre „arischen Papiere zur Einsicht“ vorlegen; zwei Jahre später wurde sie auserkoren, dem Reichsaußenminister von Ribbentrop Neujahrsgrüße auszurichten – auf rückwärts, versteht sich. Ihre jüngeren Kolleginnen Hildegard Frederick und Renate Böhmer heben in ihren Geschichten eher die frühen Jahre in der DDR hervor, in denen sowohl ihre Karrieren als auch ihr Privatleben entscheidende Wendungen erfahren haben.

Der Abend funktioniert wie ein Staffellauf: Als Erste geht Käthe Denicke an den Start, ihre Erzählungen pendeln zwischen rückwärts und vorwärts, bis sie die Staffette an Hildegard Frederick übergibt, die mit ihrer Geschichte zu Renate Böhmer überleitet. Kein Stück also, das sich kontinuierlich entwickelt – dafür immer neu gesetzte Spots auf einzelne Szenen und Erlebnisse. Bei allen Frauen werden die Erzählungen immer wieder gebrochen – durch Einsprengsel von Videointerviews, die Herrbold und Becker mit den drei Frauen geführt haben, oder durch szenische Einspielungen von Filmen, in denen prägende Erfahrungen noch einmal nachgespielt werden. Da wird die alte Käthe Denicke noch einmal zum jungen Mädchen, das bei dem Neujahrstermin beim Reichsaußenminister 1942 damals die Adjutanten beeindruckt hat, und die alte Artistin auf der Bühne betrachtet das junge Mädchen im Film.

Bis sie diese Art der öffentlichen Konfrontation mit der eigenen Geschichte zulassen konnten, haben die Frauen eine ganze Weile gebraucht: Hildegard Frederick zum Beispiel berichtet schonungslos von ihrer politischen Naivität während des Nationalsozialismus, aber ebenso schonungslos von ihrer privaten Geschichte des Verlassenwerdens. Nach der Flucht ihres ersten Mannes aus Ostberlin in den Westen war auch ihre künstlerische Karriere als Seiltänzerin beendet. Sie arbeitete fortan bei der Post: „Ich hatte nicht genug Selbstbewusstsein, mir eine eigene Karriere aufzubauen“, sagt sie heute, „ich verdränge da nichts.“ Aber sie gesteht auch, dass es nur mit ihrer antrainierten Artisten-Disziplin durchzuhalten war, gerade wegen der schweren Momente, „in denen das alles wieder hochgekocht ist“. Inzwischen findet Frau Frederick trotzdem, dass es großen Spaß macht, wieder auf der Bühne zu stehen. Und da stört es auch nicht weiter, dass sie mit ihren 73 Jahren nicht mehr „in einem der entzückenden Kostümchen von damals“ herumlaufen kann.

„4 alte Artistinnen“. Premiere, heute, 20 Uhr (danach 21. bis 23. und 25./26. 6.), im Podewil, Klosterstraße 68–70

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen