: Die teuren Diener
Wie die Geschichte zeigt, sind Geheim- dienste im besten Fall nichts als sinnlos, im schlechtesten können sie zur Gefahr für ihren eigenen Staat werden
von PHILIPP GESSLER
„Unsinn!“ also, vorwiegend Unsinn. So urteilt über seine Arbeit der Mann, der für die größte Niederlage der Stasi verantwortlich war. Dessen Überlaufen 1979 in den Westen zur Enttarnung von siebzehn DDR-Spionen und zu etwa hundert Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche Ostagenten in der Bundesrepublik führte. Der dem Bundesnachrichtendienst (BND) rund zwanzigtausend Blatt „Topsecret“-Material vom gegnerischen Geheimdienst übergab. Der schließlich erstmals die Gesichtszüge von DDR-Auslandsspionagechef Markus („Mischa“) Wolf enthüllte.
Dieser Werner Stiller sagt heute: An einem normalen Arbeitstag habe er als Oberleutnant der Stasi, Chef von 35 Mitarbeitern und operativer Führungsoffizier in der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), „achtzig Prozent“ seiner Zeit mit „Unsinn“ verbracht: warten, sich rechtfertigen, Geld abrechnen, Briefe wegen Tippfehlern neu schreiben – langweilige Büroarbeit eben. Was also ist aufregend am Leben eines Agenten? Und: Was bringt das alles?
Diese Frage stellte sich vor allem die amerikanische Regierung nach den Terroranschlägen vom 11. September, die auch ein Geheimdienstdesaster waren. Dabei hat das Versagen der Dienste Tradition: Schaut man sich die Wendepunkte der deutschen Geschichte nach 1945 an, machten die Geheimdienste gerade hier, im Brennpunkt des Kalten Krieges, in der Regel eine schlechte Figur. So erfuhr der damalige CIA-Chef Allen W. Dulles vom Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 in Ostberlin aus der Zeitung, erzählt Friedrich Schlomann, von 1962 bis 1972 im Referat für psychologische Kampfführung des Bonner Verteidigungsministeriums.
Erst fünf Tage vor dem 13. August 1961 verfügten die westdeutschen Behörden über vage Informationen, dass überhaupt irgendetwas in der DDR geplant sei, so Schlomann. Und als einen Tag vor dem Mauerbau erste konkrete Geheimdienstmeldungen in Westdeutschland ankamen, wurden sie nicht geglaubt. Ähnliches spielte sich vor dem Mauerfall 1989 ab. Das Desaster der versuchten Invasion von Exilkubanern mit US-Hilfe in der Schweinebucht im April 1961 beruhte auch auf Übertreibungen der US-Dienste und der Unerfahrenheit des frisch gewählten Präsidenten John F. Kennedy, der diese Informationen nicht richtig einzuschätzen wusste, erklärt der Marburger Historiker und Geheimdienstexperte Wolfgang Krieger.
Günter Bohnsack, ehemaliger Oberstleutnant der Stasi unter „Mischa“ Wolf, beklagt, dass nach dem Überlaufen Stillers die Mitarbeiter der HVA zum großen Teil damit beschäftigt waren, sich gegenseitig zu überwachen: Man sei seitdem kaum noch „operativ“ tätig gewesen. Das ist übrigens ein Problem, mit dem alle Staaten auszukommen haben: Die USA haben nach Informationen des Historikers Krieger dreizehn Geheimdienste, die sich gegenseitig skeptisch beäugen, ja teilweise bekämpfen. Innerhalb einzelner Dienste sei das Misstrauen so groß, dass Meldungen nicht weitergegeben würden. Das macht Geheimdienste sinnlos, im besten Fall: Denn sie können so mächtig werden, dass sie für ihre eigenen Staaten zur Gefahr werden können, wenn sie der politischen Kontrolle entgleiten. Stiller erzählt, die Spionageabteilung der Stasi sei in ihrer Hochzeit „ein Staat im Staate“ gewesen: „Wir haben gemacht, was wir wollten.“
Am Ende, so berichtet der Politologe Wegmann, sei das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) mit 91.000 hauptamtlichen und 176.000 Inoffiziellen Mitarbeitern sogar damit beauftragt worden, in größeren Mengen Limonade zu beschaffen, um so Unruhen in der Bevölkerung vorzubeugen. Die Welt der Geheimdienste ist voller Absurditäten dieser Art – und nicht selten sind sie zugleich tragisch: So wurde der Berliner Karl Laurenz, ein arbeitsloser Akademiker, am 23. November 1955 als Westspion in Dresden hingerichtet: Wie Tonbandaufnahmen von seinem Schlusswort beim Ein-Tages-Prozess vor dem Militärgericht belegen, bezeichnete er es als „Witz meines Schicksals“, dass er zum Thema „Die Todesstrafe in der Geschichte“ promoviert hatte.
Elli Barczatis war die Freundin von Laurenz. Sie erzählte ihm Interna aus dem Sekretariat von Otto Grotewohl, damals Ministerpräsident der DDR. Auch für sie beantragte die Staatsanwaltschaft wegen Spionage die Todesstrafe – völlig überraschend, da sie voll geständig war und sich reuig zeigte. Es gibt ein erschütterndes Tonbandprotokoll des Prozesses. Darin ist zu hören, wie Elli Barczatis angesichts der angedrohten Todesstrafe zusammenbricht und neun Minuten vor dem Gericht um ihr Leben kämpft. Vergebens.
Am 23. November 1955 wurden beide in Dresden hingerichtet. Laurenz blieb in seiner Todesnacht den Dokumenten nach ruhig, wie der ehemalige Rias-Journalist Manfred Rexin recherchiert hat. Er durfte noch rauchen und einen Abschiedsbrief an seine Lieben schreiben, der aber offensichtlich vernichtet wurde. Um drei Uhr morgens wurde er in den „Richtraum“ gebracht und dort enthauptet, zehn Minuten später wurde Elli Barczatis geköpft. Wer einmal Augenzeugenberichte gelesen habe, was es bedeute, wenn unter der Guillotine innerhalb weniger Augenblicke fünf Liter Blut aus dem Körper spritzten, könne den Spruch „Kopf ab“ noch weniger ertragen, so Rexin.
Der MfS-Hauptmann Werner Teske wurde in Folge des Stillertraumas wegen „vollendeter Spionage“ für den Klassenfeind am 26. Juni 1981 hingerichtet – obwohl er kein einziges Geheimnis verraten, sondern nur geheime Akten bei sich zu Hause im Waschkeller gebunkert hatte: Mit diesen wollte er sich wohl in den Westen davonmachen. Bei seiner Verhaftung wurde neben seiner Familie auch sein Hund in Verwahrung genommen, so berichtet der Schriftsteller Joachim Walther, der den Fall anhand von Unterlagen der Gauck-Behörde untersucht hat.
Teske war der letzte „fahnenflüchtige“ MfS-Spion, der hingerichtet wurde. Durch „unerwarteten Nahschuss“. Er hatte zwanzigtausend Westmark unterschlagen und vor allem für westliche Luxusgüter wie Jeans, edlen Alkohol, Spargel und Champignons auf den Kopf gehauen. In einer seltsamen Selbstanklage während des Prozesses legte er ausdauernd dar, was er westlichen Diensten alles an Geheimem über das MfS hätte erzählen können. Der Ausgang des Prozesses war politisch vorgegeben, MfS-Chef Erich Mielke wollte ein Exempel statuieren. Am 26. Juni 1981 wird Teske in der Strafvollzugsanstalt Leipzig hingerichtet, wo seit Anfang der Sechzigerjahre alle Todesurteile der DDR vollstreckt wurden.
Ohne dass er wusste, dass seine letzten Sekunden tickten, wurde er in eine Art Verhörraum gebracht. Teske wurde eröffnet, dass sein Gnadengesuch abgelehnt worden sei und er mit einer unmittelbaren Vollstreckung des Todesurteils rechnen müsse. Sogleich trat in seinem Rücken ein Scharfrichter an ihn heran und erschoss ihn mit einem Kopfschuss. Am Tag seiner geheim gehaltenen Hinrichtung gab man Teskes Witwe ihren Ausweis zurück, den die Behörden eingezogen hatten. Mit der Bemerkung: „Schauen Sie doch mal in Ihren Personalausweis: Ihr Familienstand hat sich geändert.“
Insgesamt, so Walther, begingen etwa fünfhundert Mitarbeiter des MfS „Fahnenflucht“ in den Westen. Ungefähr 120 wurden „zurückgeführt“, also gekidnappt, sieben wegen Spionage hingerichtet, drei schon vor Durchführung ihrer Flucht exekutiert. Der Stasi-„Verräter“ Stiller sagt im Rückblick: Bei der Geheimdiensttätigkeit „hinterlassen Sie irgendwo immer Tränen“. Er finde seine jetzige Arbeit als Unternehmer in Budapest viel aufregender.
Doch die Absurdität der Geheimdienste ist mit dem Ende des Kalten Krieges keineswegs beendet. Jüngstes Beispiel: Anfang März weihte der orthodoxe Patriarch Alexij II. auf dem Gelände der Zentrale des russischen Geheimdienstes FSB am Lubjanka-Platz in Moskau eine Kirche ein, in der Gottesdienste nur für Geheimdienstler abgehalten werden. Da diese Sophienkirche aus dem 16. Jahrhundert, zu Sowjetzeiten als Lagerraum genutzt, nur über einen einzigen Zugang über den Hof der FSB-Zentrale zugänglich ist, können Gläubige ohne Dienstausweis vorerst nicht an den Gottesdiensten teilnehmen.
Und was bringt das aufwändige und gefährliche Geheimdienstgetue heute noch? Bekannt sind die Äußerungen der früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt und Helmut Kohl, die beide öffentlich in ähnlichen Worten erklärten, bei ihren politischen Entscheidungen hätten sie sich als Letztes auf die Informationen der Dienste verlassen. Das meiste stünde doch ohnehin in der Zeitung, meint auch der bündnisgrüne Bundestagsabgeordnete und Geheimdienstkritiker Christian Ströbele.
Der MfS-Oberstleutnant a. D. Bohnsack sagt: Seine Arbeit bei der Stasi habe nur der als anregendes „Spiel“ begreifen können, der skrupellos genug gewesen sei. Angesichts des Zusammenbruchs der DDR trotz ihres immensen und scheinbar erfolgreichen Geheimdienstes hat er deshalb sein Urteil gefällt: Das Ganze war ein „sinnloses, teures Unternehmen“. Und was habe es gebracht? „Nichts.“
PHILIPP GESSLER, 35, ist Redakteur im Berlinressort der taz
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