piwik no script img

zukunft des nahverkehrsJÖRN FLAIG über die Pflicht zur Perfektion im Freizeitverkehr

Verführung zu neuen Verhaltensmustern

„Fahrt alle Taxi!“ war der Titel eines Kommentars von Andreas Knie, Techniksoziologe an der TU Berlin, an dieser Stelle anlässlich des 100. Jubiläums der Berliner U-Bahn im Februar. Die taz diskutiert aus diesem Anlass – immer samstags – streitwürdige Thesen zur Zukunft des Nahverkehrs. Zuletzt schrieb Bernd Küffner über den Nahverkehr im Ikea-Modell.

Bei 35 Grad im Schatten sitzen die Berliner nicht zu Hause, sondern in Ahlbeck und Heringsdorf. Reif für die Insel, ob als Urlauber oder als Tagesausflügler – auch in Düsseldorf und Frankfurt hat es sich herumgesprochen, dass Usedom wieder en vogue ist. Sonne, Sand und Ostseeflair, das ist es, was viele gen Norden zieht. Zu viele jedoch, als dass sie ohne Stau dorthin gelangten. Lärm, Gestank, Aggression und übervolle Parkplätze sind dabei die Kehrseite der Sommerfrische. Anlass für manche Touristen, transportmäßig einmal etwas Neues auszuprobieren. Schließlich wird der Komfort im eigenen Pkw mit vielen Nachteilen erkauft, die gelegentlich den Preis dafür hinterfragen lassen. Ein Wechsel des Verkehrsmittels jedoch erfordert Alternativen, die aktiv dazu einladen, ausprobiert zu werden.

Welche Auto-Alternativen gibt es? Beispiel Anreise aus Berlin: Ab Züssow, wo man von Berlin aus kommend den Regionalexpress verlässt und in die neuen, blauweißen Triebwagen der Usedomer Bäderbahn (UBB) umsteigt, kann man genüsslich die Landschaft betrachten. Scheinbar endlos dehnen sich die Wiesen und Felder – endlos auch die Fahrt! Knapp 50 km in eindreiviertel Stunden. Dabei fährt der Triebwagen mitunter durchaus zügig durch die Felder, steht dann aber wieder unnötig an den Haltestellen herum. Nur gut, dass alle hier so viel Zeit haben.

Dabei zählt für ÖPNV-Experten die UBB gern zu den Vorzeigeprojekten: vom stilllegungsbedrohten Sanierungsfall zum modernen, regional Arbeitsplätze schaffenden Profitcenter der Bahn. Und auch die Urlaubsgäste schätzen sie als wichtigen Faktor für die Urlaubsregion, selbst wenn sie sie noch kaum nutzen. Doch gerade wegen der hohen Erwartungen enttäuscht die UBB letztendlich: Das Image ist besser als die erfahrbare Realität. Das meint nicht nur die lange Reisezeit, sondern auch Details des Betriebes, wie die Lage von Haltepunkten oder die Wegweisung dorthin. Um nicht missverstanden zu werden: Das Angebot der UBB ist nicht schlecht. Aber ist es gut genug? Ist das eine verlockende Alternative?

Beispiel zwei: Der Verkehr innerhalb der „Kaiserbäder“ Ahlbeck, Heringsdorf und Bansin: Durch die drei Orte mäandert eine neu eingerichtete Buslinie alle halbe Stunde und verbindet so die teils abseits gelegenen Bahnhöfe mit den Hotels und der Promenade. Das Angebot ist verhältnismäßig schnell und komfortabel. Insbesondere für ältere Gäste ein Plus an Service, erreichen sie die üblichen Ziele doch auch ohne Auto fast immer direkt. Schlecht ist allerdings, dass die Existenz der „Kaiser-Bäder-Linie“ ein Insidertipp zu sein scheint. Und hat man eine Haltestelle entdeckt, weiß man zwar, wann der Bus abfährt, aber noch lange nicht, wie er fährt und wie viel welche Fahrt kostet. Der Fahrer verkauft prinzipiell lieber Einzeltickets, weil Tages- und Wochenkarten per Hand ausgefüllt werden müssen, obwohl die bei mehrfacher Nutzung schnell preiswerter sind, UBB-Nutzung inklusive. Automaten- oder Vorverkauf existieren gar nicht, obwohl sich so extrem viel Zeit an den Haltestellen sparen ließe. Wegen fehlender elektronischer Anzeigen und Durchsagen persönlich Auskunft über den Weg zu geben, lehnt der Fahrer ab. Information und Service sind also – zumindest bisher – lausig. Um auch hier nicht missverstanden zu werden: Das Angebot der „Kaiser-Bäder-Linie“ ist eigentlich gut. Auch gut genug?

Der Nahverkehr auf der Berliner liebster Insel könnte wirklich verführerisch gut sein. Und das nicht nur, weil die Bedingungen für Autonutzer nicht gerade rosig sind, sondern vor allem, weil die Angebote des ÖPNV ein enormes Potenzial besitzen. Usedom ist bereits ein Positivbeispiel, denn das Basisangebot des ÖPNV ist breit und zuverlässig. Zusätzlich jedoch müssen alte Anschauungen abgelegt werden.

Vorurteile führen jedoch nicht zu besserem Nahverkehr: weder die der „Pufferküsser“, für welche die schönen blauweißen Wagen der UBB schon der Himmel auf Erden sind. Noch die der Autofahrer, für die „die Öffentlichen“ im Allgemeinen eine Gleichung mit zu vielen Unbekannten sind. Und auch nicht die mancher Busfahrer, die ihre Kunden als lästige „Beförderungsfälle“ sehen, die Arbeit machen. Aus dem derzeitigen Ist-Zustand resultiert immer noch eine geringere Zahl von Fahrgästen, als möglich wäre. Schlimmer noch, Fahrgäste, deren Neugier auf den öffentlichen Nahverkehr mit Nerverei, Warterei und Unfreundlichkeit quittiert wird. Kunden also, die dem ÖPNV möglicherweise wieder den Rücken kehren und schnurstracks wieder ins Auto einsteigen werden. Negative Erfahrungen sind, leider, einprägsamer als gar keine.

Fazit: Insbesondere im Freizeitverkehr braucht es ein am potenziellen Kunden orientiertes Produkt. Es muss den Eigenanspruch haben, zügig, komfortabel und möglichst punktgenau zu sein, kurz: perfekt. Dazu gehören auch ein aktives Marketing und ein extrem hohes Serviceniveau. Schließlich wollen wir doch alle verführt und dort abgeholt werden, wo wir stehen: zu Hause, im Café, am Strand oder im Hotelzimmer. Aber auch in unseren vertrauten und bequemen Verhaltensmustern. Sonst bleiben die zaghaften Produkttests chronischer Autofahrer immer nur Veranstaltungen zur Bestätigung der eigenen Vorurteile. Nämlich dass der ÖPNV langsam, teuer, umständlich und eine Servicewüste ist. Der Gegenbeweis ist – immer wieder – zu erbringen!

Jörn Flaig ist Dipl.-Ing (FH) für Kommunale und Regionale Verkehrsplanung und beschäftigt sich an der Fachhochschule Erfurt mit Freizeitverkehr

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen