Die Penta soll her – egal wie

Wollmützen finden reißenden Absatz im brasilianischen Winter. Auch sonst hat vor dem „Endspiel schlechthin“ gegen die deutsche „Maschine“ die Nation ein ungewohnter Pragmatismus ereilt

aus Porto Alegre GERHARD DILGER

Es ist Winter in Südbrasilien, und die WM nähert sich dem Ende. Auch deswegen finden in Porto Alegres Fußgängerzone gelb-grüne Wollmützen für knapp zwei Euro reißenden Absatz. Ansonsten ist diese „Copa“ für Ricardo Oliveira eher „mittelmäßig“ verlaufen. Nicht wegen des spielerischen Niveaus, denn die nach mühseliger Qualifikation so überraschenden Erfolge der Seleção begeistern nun doch ganz Brasilien. Nein, am meisten hatte der dunkelhäutige Straßenverkäufer darunter zu leiden, dass die Live-Übertragungen der Spiele spätestens um halb neun Uhr morgens begannen – oder gar, wie zuletzt, als Brasilien gegen England antreten musste, früh um halb vier. Dann saß er wie der Rest der gesamten Fußballnation auch zu Hause vor der Mattscheibe. Die Tore von Ronaldo, Rivaldo, Roberto Carlos und dem Lokalmatador Ronaldinho Gaúcho, der bei Gremio Porto Alegre groß wurde, wurden mit Böllern gefeiert. Die sonst üblichen stundenlangen Autokorsos fielen diesmal allerdings aus.

Bei der Halbfinalpartie gegen die Türkei blieben die meisten Banken, Behörden und Geschäfte bis zum Abpfiff geschlossen. Die meisten Kinder hatten schulfrei. Nun stimmt aber wenigstens beim Endspiel das Timing: Angepfiffen wird am Sonntagmorgen um acht Uhr in der Frühe, das Ende des Spiels ist offen, das der dann zu erwartenden Feierlichkeiten sowieso.

Der „Penta“, der fünfte WM-Titel, scheint in greifbare Nähe gerückt. Vor allem dank der Berichterstattung von TV Globo, das auch noch in den abgelegensten Landesteilen empfangen wird, sind die BrasilianerInnen noch über die allerletzten Details aus Japan informiert. Mit einer Einschaltquote von 75 Prozent stellte der Sender am Mittwoch einen neuen Quoten-Rekord auf. Die großen Zeitungen stehen dem TV-Fußballrausch mit mindestens zehn Sonderseiten jeden Tag kaum nach.

„Das Endspiel schlechthin“, jubiliert es aus allen Kanälen. Die zu Hause eher suspekt eingeschätzte Völler-Truppe sei „das beste Deutschland aller Zeiten“, rechnete die statistikbesessene Folha de São Paulo vor. Noch nie habe eine deutsche Endspielformation in vorangegangenen Turnieren einen so guten Tor- und Punktedurchschnitt vorweisen können. Spielerisch seien die Deutschen zwar auch nicht besser als die Türken, schränkt Altstar und Folha-Kolumnist Tostão ein. Aber sie hätten das „enorme Gewicht der Tradition“ auf ihrer Seite, seien kämpferisch voll auf der Höhe und prinzipiell immer voller Siegeswillen. „Der Gesichtsausdruck des außergewöhnlichen Torwarts Oliver Kahn symbolisiert die deutsche Power und Effizienz“, meint Tostão.

Mit seiner Losung vom „Respekt“ vor den Deutschen fasst Brasiliens Coach Luiz Felipe Scolari die in ganz Brasilien vorherrschende Haltung zusammen. Sympathischer, mitreißender und brillanter mögen die Senegalesen, Südkoreaner oder selbst die tragischen Argentinier aufgespielt haben, aber für die deutsche „Maschine“ spricht das optimale Verhältnis von Aufwand und Ertrag. Und das bewundern die Brasilianer tatsächlich ohne jede Einschränkung.

Allerdings: Vielleicht haben morgen gerade deswegen die Gelb-Grünen die Nase vorne. „Wir haben unsere vier Rs, die jedes Spiel entscheiden können“, sagt selbst Straßenverkäufer Ricardo Oliveira, „außerdem ist unsere Abwehr schon fast so effektiv wie die der Deutschen.“ Solch ungewohnter Pragmatismus hat weitgehend auch im Land der Schönspieler um sich gegriffen. So schön wie früher sehe das zugegebenermaßen schon lange nicht mehr aus, so viele Kommentatoren, aber anders sei der „Penta“ nun mal nicht zu holen.