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Rot = funktionsbereit

Nach vier Jahren Regierungsarbeit scheint die Politik Gerhard Schröders und der SPD von Pragmatismus geprägt. Programmatische Perspektiven? Fehlanzeige, möchte man meinen. Doch verdeckt die inszenierte Offenheit nicht eine rigorose Leistungsideologie?

von MECHTILD JANSEN

Die rot-grüne Regierung hatte ihre heftigen Abs und kurzweiligen Aufs, eine Reihe von neuen Gesetzeswerken, viele kleine und große mit „Bastas“ gelöste Krisenmanagements, zu Anfang und gegen Ende eine zerreißende Kriegsentscheidung, schnelle Ministerab- und -aufstiege, ihre zunehmend schwächelnden Fraktionen, trotzdem und vor allem aber unentwegt ihre unumstrittenen Stars: den Kanzler, den Außenminister, den Innenminister.

Niemand ist zufrieden, aber so schlecht ist das Ergebnis auch nicht; viele haben ein bisschen was vom Gewünschten bekommen. Die Starken halten das Ruder in der Hand. Doch eines hat Rot-Grün nicht geschafft: politisch ernst genommen zu werden. Jeder Versuch, der eigenen Politik ein konzeptionelles Fundament und eine programmatische Perspektive zuzuschreiben, ist gescheitert. Der „dritte Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus? Darüber redete schon nach drei Monaten niemand mehr. Die „neue Mitte“? Nach Bodo Hombachs Ablösung zeigte sie sich noch impliziter als zuvor. Das Regierungshandeln wurde und wird heruntergespielt auf medial inszenierte, vom Dauerwahlkampf inspirierte Personalisierung, Pragmatismus und Zwänge.

Es gehört zur Absicht und Wirksamkeit dieser Politik, sich frei von Idelogie und Entwurf zu geben. Doch ist es ein Irrtum zu glauben, es gäbe kein politisch zu entschlüsselndes Programm. Das Mitteprogramm der SPD ist tatsächlich ein Transformationskonzept für die Partei und ein Konzept für eine gesellschaftliche Veränderungsstrategie angesichts tiefen sozialen Wandels. Diese Mitte zieht mit ihrer angenehm lockeren Art in einen Machtumbau hinein, der sich wie jede Machtausübung im Grauen vollzieht. Ihre Oberflächlichkeit ist nicht einfach Oberflächlichkeit, sondern Kalkül.

Anzüge, Haarfarbe, Körperinszenierung, Gattinnen, Räume, Bühnen, hochästhetisierte Werbeanzeigen – das alles ist nicht Klatsch und Etikette, sondern Politik. Das sozialdemokratische Parteipublikum ist verwandelt. Es trägt fast durchweg Grau oder Schwarz, Anzug oder Kostüm oder strengen Pullover. Silbergrau war die Farbe der Regierung von Anfang an. Sie suggeriert Tempo, Beweglichkeit, Dynamik, anziehende und abperlende Glätte. Sie repräsentiert den Fluss der Geschäfte des Marktes und des Geldes, der in alles eindringt und alles mit allem verschmilzt. Wie Brüder einer Gemeinde tragen die Genossen bei Parteiveranstaltungen ein rotes SPD-Kettenband um den Hals. Das Rot im Grau hat nicht etwa mit sozialistischen Ideen zu tun, es ist vielmehr Signalfarbe, Impuls und Zeichen der Bereitschaft zu funktionieren. Die SPD funktioniert nach vier Jahren bestens – und ist vollkommen kraftlos.

Der Kanzler und Parteivorsitzende sowie seine Parteizentrale erzählen von Gerhard Schröder als jenem, der aus dem Volk stamme und sich mit Leistung und Ausdauer hochgearbeitet habe. „Die Mitte bin ich“, machten daraus viele Medien. Doch hier erzählt einer eine persönliche Geschichte als theoretisches Modell und programmatisches Vorhaben, und hier ist Personalisierung gesellschaftspolitisches Programm. Sozial basiert es auf einer rigorosen Leistungsideologie, die jeglicher gesellschaftlichen Verhältnisse enthoben ist. Politisch stützt es sich auf die Absage an vermeintliche oder tatsächliche Extreme, um als Mitte auszurufen, wer an der Spitze der Gesellschaft angekommen ist. Im gesellschaftlichen Raum beansprucht es für sich die Motorenrolle für Modernisierung, die inhaltlich an keinem anderen Kriterium als dem Erfolg der Spitzenperson festgemacht wird. Diese Person nimmt sich die Führung der Gesellschaft durch „Charisma“ und unendliche Beweglichkeit im Umgang mit gesellschaftlichen Akteuren heraus. Die Privilegierung dieser Person und ihrer Freunde gegenüber den demokratischen Institutionen und der Zivilgesellschaft begründet sie mit der Behauptung der Verbesserung der obwaltenden Zustände, die sich als bestmöglicher Opportunismus im Umgang mit Problemen herausstellt.

Gerhard Schröder hat in seiner Präsentation programmatisch „Nachhaltigkeit“ und „politische Kultur“ als die Schlüsselbegriffe der Mitte bezeichnet. In ihnen spiegelt sich der sozialdemokratische Verzehr der Grünen, aus deren Ideengeschichte und Substanz sie stammen. Unter dem Stichwort der Nachhaltigkeit reklamiert er Ökologie, Abbau der Verschuldung, Steuerreform, Rentenreform, Generationenverhältnis, Energieversorgung und Verbraucherschutz für seine Politik der Modernisierung. Globale Fragen und die Neubestimmung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft, Eigenverantwortung und Solidarität sind die hier „verarbeiteten“ Anliegen der neuen sozialen Bewegungen der Achtzigerjahre. In der Antwort freilich treffen sich Spareffekte, neue Kapitalisierungsmöglichkeiten und Strukturveränderungen, die die (Rechts-)Autonomie der Bürger schwächen. Soziale Rechte wurden dezimiert, soziale Zwänge aufgebaut.

Unter dem Stichwort „politische Kultur“ reklamiert Schröder Offenheit, welche freilich nicht beliebig sei. Er versteht darunter Innovation, neue Entwürfe, Waren und Märkte um jeden Preis. Offenheit sei zudem Voraussetzung für die Teilhabe von Menschen an wirtschaftlichem Erfolg und an Entscheidungen, die auf Engagement und Begabung, sprich Leistung und Mehrwert, zu basieren hätten. Unter dieser Prämisse soll niemand ausgeschlossen sein. Gemeint sind die für die Etablierten Nützlichen. Die anderen, Miesmacher, Störer, Ältere, Langzeiterwerbslose, chronisch Kranke, Ausgegrenzte oder Herausgefallene werden abgehängt.

Die pikante Kombination setzt sich fort, wenn Freiheit und Sicherheit, Militär und Krisenprävention, Eigenverantwortung und Planbarkeit vereinbart werden und Bürger für Leistung und Eigenverantwortung auch Ausgleich und Chancengerechtigkeit erwarten können sollen. Die Mitte erhebt, wo dem Gott Geld eilig gedient wird – also eine angebotene Arbeit nicht etwa abgelehnt wird – Nehmen und Geben zur moralischen Pflicht. Von zwei- und vielseitig ausgehandelten Tauschregeln und individuellen Rechten innerhalb eines Sozialvertrags ist nicht die Rede. In der Bildung sieht der Parteivorsitzende die neue soziale Frage. Dies nicht etwa wegen der im Bildungssystem produzierten sozialen Ungleichheit, sondern weil die Zukunft in „wissensbasierten Produkten“ liegt. Die neue soziale Frage ist eine wirtschaftliche Frage, und deshalb muss auch „radikal Schluss sein“ mit der Benachteiligung von Mädchen, die als Ressource dereinst gebraucht werden, so wie Fremdheit gegenüber Fremden produktschädigend ist. Lösen will die Mitte das Problem durch die richtigen Vorbilder und den Mut zur Erziehung, in Ganztagsbetreuung.

Ähnlich geht es bei der alten sozialen Frage zu. „Wer Menschen ausgrenzt, macht die Ränder stark.“ Amerikanisierung würde die politische Führung der existierenden Eliten und somit den Fluss der Geschäfte bedrohen. Deshalb besteht der sozialdemokratische Rest im „Ausgleich zwischen Flexibilität und Schutzinteressen“. Deshalb will die SPD „Menschen in Arbeit bringen“. Weder soziale Bürgerrechte noch neue Arbeitsplätze oder -gestaltung sind gemeint. Die „humane Gesellschaft“ ist jene, in der die, „die arbeiten wollen, auch die Chance erhalten“. Wer keine Arbeit hat, wollte wohl nicht oder wusste die Starthilfe nicht effizient zu kapitalisieren. Fördern und fordern – da gibt es keine verifizierbaren Regularien, sondern Zuckerbrot und Peitsche, konservative Erziehung und Führung.

Feinde aber sind ausgemacht: Strukturen und Denken, das „zu langsam“ und „nicht effektiv“ sei. Die Mitte, so Gerhard Schröder, will die Mitte stärken und die Balance halten. Die Balance, nach der sich viele in einer zerreißenden Welt sehnen, vollzieht sich über das Wörtchen „und“, das so freundliche wie bestimmte Einreden der Koexistenz von Gewinnern und Verlierern jenseits der Betrachtung von Machtverhältnissen.

Zur Herzensangelegenheit, gar Utopie, wird schließlich die Familie. Im Zeitalter sozialer Verwerfungen bietet sie die einzig denkbare persönliche Sicherheit. Vor allem ist sie die kleinste „kollektive“ Firmeneinheit und unmittelbare ökonomische Ressource geworden. So erklärt sich die Entdeckung des Themas, das eine wirklich moderne Geschlechterpolitik inhaltlich geradezu umkehrt. Neue Abhängigkeit ersetzt die Schaffung so eigenständiger wie kooperativer Existenzsicherung und gleicher Menschenrechte. „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ und „Chancengleichheit“ als Verfahren der Bestenauslese resultieren aus dem Bedarf an kontrollierbaren ökonomischen Ressourcen und Menschenmaterial. Mit ein bisschen mehr Geld für Kinderbetreuung soll es bleiben, wie es war.

Solch modernes Regieren wird angesichts von Rezession und Remilitarisierung auf die Probe gestellt. Der Schönheitsfehler Krieg wird in die Vision „umfassender Sicherheitspolitik“ aufgelöst, vor dem Terror soll Globalisierung vielen nutzen. Die Politiker lernen voneinander, wie sie das am besten glauben machen können. Es sind drei Elemente, die ins Auge fallen: die Ökonomisierung, die personale autoritäre Führungsidee und einseitige Kommunikation. Geldtechnik nutzt Soziales (aus), „Männliches“ zieht „Weibliches“ instrumentell und enteignend hinzu.

Außen weich und innen hart sind die „neuen Mittler“, die besten Verkäufer einer politischen Gestaltung von Individualisierung in Form der Herrschaft der ersten charismatischen Person und der dienenden Unterordnung der anderen. Wo das misslingt, wird Anarchie sicherheitstechnisch bekämpft. Die Mitte wird sich, nachdem bisher ihre eigentliche politische Leistung im Flüssigmachen der Verhältnisse, in der kleinteiligen Auflösung bisheriger Machtblöcke und -strukturen sowie in Unterlassungen bestand, nach und nach einen neuen strukturellen und institutionellen Unterbau schaffen. Der soziale und politische Zusammenhang der Gesellschaft wird über die Herrschaft der sozialen und politischen correctness hergestellt.

Die Frauenfrage als Gesellschaftsfrage ist ihr heimliches Zentrum und roter Faden: In ihr bündelt sich die Frage nach der Art der Machtausübung, der ökonomischen Erschließung der „Humanressource“ Mensch sowie der (Re-) Produktivität der ganzen Gesellschaft. Dabei wird die einstmals private zu- und untergeordnete Rolle der Frau flächendeckend vergesellschaftet. Dies war nur zu bewerkstelligen, indem um des eigenen persönlich-männlichen Machterhalts und -zugewinns willen die Politik als kollektive soziale Veranstaltung entmachtet wurde, mit der auf der substantiellen Ebene noch eine Selbstentmachtung einhergeht. Bevor der Mann wieder Führer sein darf, muss er erst einmal Diener „der Wirtschaft“ gewesen sein. Diese Politik lässt nun wieder die richtig starken Führer attraktiv werden, solche, die ohne weibische Fisimatenten auskommen.

Die Bundestagswahl erklärt Schröder zur Entscheidung zwischen Zukunft und Vergangenheit. Der Führer ist die Zukunft, ihm gehört die Zukunft. Er diktiert den Konsens und praktiziert einen missbräuchlichen Beziehungsumgang. Gesellschaftspolitik zeigt sich als Auflösung von Gesellschaft und Schaffung eines Vakuums, das von sich aus nach neuen Machtverhältnissen rufen wird. Es ist affirmativ gegenüber den Machthabenden der Märkte. Mitte, so definierte einst Bill Clinton, ist „das, was wir tun“, ein absoluter Pragmatismus als Programm, der im Hier und Jetzt zu Hause ist, immer schon und ewig erfolgreich qua Definition, eine Anbetung des Erfolgs. Die in Erscheinung tretende politische Philosophie ist nicht, wie oft behauptet, leere Rede, sondern komplexe Antwort auf komplexe Lagen auf dem globalen Markt, auf dem auch Politik gekauft sein will.

Die einzig noch gestalterische Politik ist punktualistisch. „Reform“ kommt in ihr verordnet, zu spät und in ihrem Vorzeichen gewendet vor. Die CDU ist christlicher, als die SPD noch sozial ist, die SPD ist die rigoroseste Fortschrittspartei, die sich gegenwärtig denken lässt. Fragt sich nur, wie progressiv diese Modernisierung noch ist. Zu befürchten ist, dass die zur Mitte gelangten 68er noch länger durchmarschieren, als der forscheste Kapitalist es je täte.

Noch liegt die Stärke der Mitte in der politischen Alternativlosigkeit. Von der CDU bis zur PDS existiert im Grunde eine Einheitspartei mit konkurrierenden Flügeln, die sich um die Konkurrenz der ersten Person und die beste Variation desselben Produkts sammeln und drehen. Dessen Verfallsdatum ist in Wirklichkeit schon abgelaufen. Die Politik der Mitte führt die Gesellschaft erfolgreich in das Reich der ökonomischen Notwendigkeiten, Determinismen und historischen Zwänge, wie sie an längst vergangene Zeiten erinnern – nur ohne menschliches Antlitz.

Der Abschied von alten Fronten, die Öffnung ins Freie, die Suche im Prozess und die Anbindung an die Ökonomie sind richtig. Doch ohne politische Gestaltung enden sie nur in der Auslieferung an Wölfe. Wenn die „Humanressource“ so wichtig ist, muss in neue Arbeit, in neue sanfte Industrien, in bessere Arbeitsqualität, in soziale, traditionell „weibliche“ Arbeit, in Arbeit für Gesundheit, Kinder, Bildung und Umwelt und in die Entwicklung neuer Wege für den Mann investiert werden.

Ein gesellschaftsfähiges Welt- und Menschenbild verlangt eine politische Idee für einen Bindestoff zwischen mündigen Individuen: Jede/r braucht eine/n anderen, sie stehen sich eins zu eins gegenüber, machen halbe-halbe, pflegen Beziehungen auf gleiche Wechselseitigkeit, sind demokratisch, weil Gleichberechtigung eine Schlüsselfrage für nachhaltige Produktivität von Wirtschaft und Gesellschaft sind. Gerechtigkeit bedarf der neuen Übersetzung in Bürgerrecht und staatlich garantiertes allgemeines Recht.

Wo der Markt global ist, ist ein Recht auf ein Minimum an Eigentum angebracht, in Gestalt einer Grundsicherung für Nichterwerbsfähige, neuer Mindesteinkommen für Erwerbstätige, flexibel steuerbarer, aber sozial verträglicher durchschnittlicher Lebensarbeitsnormen, die erwünscht und deshalb steuerlich bevorteilt sind. Parteien, Parlament, Institutionen sind demokratisch zu erneuern und um weitere Bürgerbeteiligung zu ergänzen. Entscheidungen wären so weit wie möglich nach unten zu verlagern, wo ihre Folgen erfahrbar, prüfbar und korrigierbar sind. Demokratie in Europa und international, partnerschaftliche Führung zwischen Frauen und Männern müssen neu erfunden werden. Aktivitäten von Bürgern, Arbeit für andere und soziale Beziehungsstiftung sind steuerlich zu begünstigen, nachdem über ihre gesellschaftliche Erwünschtheit entschieden wurde. Der Blick auf die Effizienz alter nationaler Markroökonomie ist durch den Blick auf die Produktivität der ganzen privaten und öffentlichen Ökonomie zu ersetzen. Nur komplexe Denkparadigmen und Qualitätskriterien helfen weiter. Die „Humanressource“ setzt mehr denn je eine humane Existenz voraus und reizt zu einer Politik der Humanität, inklusive ziviler Friedenspolitik.

MECHTILD JANSEN ist Sozialwissenschaftlerin und lebt als freie Publizistin in Köln

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