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Das kann doch nicht wahr sein!

DAS SCHLAGLOCH   von MICHAEL RUTSCHKY

Der Bundeskanzler ist dazu da, dass er alles falsch macht, vom Zigarrenrauchen bis zur Arbeitsmarktpolitik

Die Personaldecke der SPD ist so dünn geworden, dass sich Spitzenleute der Partei schon deswegen vor einer weiteren Legislaturperiode fürchten. Obwohl auch die Union überwiegend abgestandenen Wein in alten Schläuchen bietet, müsste sie sich angesichts des Zustands der SPD in den noch verbleibenden 66 Tagen schon sehr dumm anstellen, um am 22. 9. nicht stärkste Fraktion zu werden.Kurt Kister, SüddeutscheZeitung vom 19. Juli 2002

Ich kann es nicht glauben. Ich kann nicht glauben, dass Der Wähler die rot-grüne Koalition nach einer einzigen Legislaturperiode durch die zu ersetzen wünscht, welche wir 16 Jahre lang hatten. Dass die jetzigen Chefs Merkel, Stoiber und Westerwelle heißen statt Kohl und Kinkel, Der Wähler kann das unmöglich schon als erneute Regierungsfähigkeit anerkennen.

Ein Regierungswechsel nach einer einzigen Legislaturperiode widerspräche der Systemlogik des Parlamentarismus, wie sie sich seit den Anfängen in der BRD einspielte. Hier vergibt Der Wähler die Rollen von Regierung und Opposition stets für länger, was viele Vorteile bietet. Weil man Regieren nur durch Regieren lernt, etwa: dass die frisch aus der Opposition kommenden Parteien erst einmal fürchterliches Ungeschick auszeichnet, charakterisierte ja die Regierung Schröder/Fischer in ihrem ersten Jahr – die Regierung Kohl/Genscher brauchte mehrere Legislaturperioden, bevor der Spitzenmann seine gewohnten Blamagen zu vermeiden gelernt hatte (wöchentlich erwartete man seine Ersetzung durch Gerhard Stoltenberg). Erinnern Sie sich an Steffen Heitmann? So hieß vor den Wahlen 1994 Dr. Helmut Kohls Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten, ein bekennender Nationalkonservativer, der sich flugs ins Aus schwadronierte. Heitmanns Berufung zeige, las man in der Zeitung, wie dünn die Personaldecke der CDU/CSU geworden sei … Dann kam Roman Herzog.

Nein, die Systemlogik, wie Der Wähler sie schätzt, spricht unbedingt dafür, der rot-grünen Koalition eine weitere Legislaturperiode zu spendieren. Wer eine drastische Negativbilanz der Regierungsarbeit aufmacht, die einen Wechsel unbedingt erzwinge, dem kann detailliert widersprochen werden – was unterdessen vielfach geschah. Gewiss, ein umrissklares Projekt wie die Ostpolitik der Regierung Brandt/ Scheel fehlte; auch keine Andere Republik stand an – von der man sich ja vorstellen muss, dass ein erheblicher Prozentsatz der Wähler sie ablehnt. Dass die Wirtschaftspolitik der Minister Eichel und Müller die Konjunktur nicht zu beleben vermochte, demonstriert die Autonomie des ökonomischen Subsystems; auch Superminister Späth wäre bald in Erklärungsverlegenheiten. Im Übrigen gehen die Vorschläge hilflos in Richtung Deregulierung und staatliche Beschäftigungsprogramme.

Nein, dass es immer noch nach Regierungswechsel im Herbst ausschaut, muss andere Gründe haben. Zum einen die Systemlogik der großen Medienerzählung, die halt auf news brennt, ganz unabhängig von der politischen Orientierung der Zeitungen und Sender. Gerhard Schröder leckt in New York seine Wunden, während Kanzler Stoiber und Außenminister Westerwelle ihre ersten … Das wäre doch wirklich was Erzählenswertes! Höchst erzählenswert wird natürlich auch sein, wenn, nach diesen anhaltend schlechten und hermeneutisch breit bearbeiteten Prognosen, Der Wähler am 22. September Rot-Grün affirmiert. Wer hätte das gedacht? „Im letzten Augenblick schaffte Schröder die Wende“: Das würde die Hermeneutik mehr stacheln als die anhaltend erwartete Regierung Stoiber/Westerwelle.

Zweitens scheint Der Wähler, wie sich jedes Mal zeigt, das Wählen doch sehr viel leidenschaftlicher zu erleben, als viele Politologen – „eigentlich gibt’s ja gar keine Alternativen“ – annehmen. Ohnedies ist der Bundeskanzler dafür da, dass er alles falsch macht, vom Zigarrenrauchen bis zur Arbeitsmarktpolitik. Anscheinend reizt jedes höhere Regierungsamt – wie vor allem die Reaktionen des Jungmenschen lehren – zum ödipalen Aufruhr („schon als Joseph Fischer vom Mittel- zum Seitenscheitel überging, war klar …“). Bevor der Wähler seinem Konservativismus nachgibt, will ich sagen, und die Parteien wählt, die er beim letzten Mal an die Regierung gewählt hat, möchte er den anderen Fall ausgiebig erwägen.

Ich will nicht verschweigen, dass es eine Argumentation gibt, die dieser hier gründlich entgegensteht. Kluge Auguren wie Richard Herzinger halten sie für plausibel. Dem Parlamentarismus in der BRD mangelt es noch an jener Systemlogik, die einen verlässlichen Wechsel von Regierungs- und Oppositionsparteien vorschreibt. Wir stehen noch unter der Herrschaft des Rechts-links-Schemas, das, nach einer Vermutung des weisen Sebastian Haffner, weniger der traditionellen Sitzverteilung im Parlament als den menschlichen Händen nachgebildet ist.

Die rechte Hand besorgt das Zufassen, die linke hält gegen (was beim Linkshänder genau umgekehrt ist, aber auch damit gilt das Schema). Die rechten Parteien sind – aus welchen Gründen immer – mit gleichsam anthropologischer Gewissheit zum Regieren bestimmt, die linken zur Opposition. Eine Einschätzung übrigens, die sich ja auch in unseren Kreisen vielfach findet; dass die Grünen sich zu einer funktionierenden parlamentarischen Kraft, sogar einer Regierungspartei entwickelten, gilt manchen Kadern als Verrat. Sie schwärmen von einer Opposition, die als Gegenwille gar keine Form hat; unter einer Regierung Kohl, träumten sie, erlangten die Massen der Friedensbewegung auf den Straßen eine Macht, dass sie eine deutsche Beteiligung am Kosovo- ebenso wie am Afghanistankrieg verhinderten. Schröder/Fischer lähmten die Massen, indem sie den Krieg rechtfertigten …

Die rechten Parteien sind mit gleichsam anthropologischer Gewissheit zum Regieren bestimmt

Kurzum, wenn das Rechts-links-Schema zugleich die Regierungs- und die Oppositionsparteien definiert, können SPD und Grüne niemals länger die Regierung stellen. Beim letzten Mal hätte Der Wähler, statt eine Regierung Schröder/Fischer einzusetzen, in Wahrheit bloß die Regierung Kohl/Kinkel abgelöst. Insofern CDU/CSU und FDP ihre Chefetage neu bestückten, kann Der Wähler ihnen ihre angestammten Rechte als Regierungsparteien zurückerstatten.

Das wäre ein Desaster. Wenn die SPD mit Gerhard Schröder und die Grünen mit Joschka Fischer keine Bundestagswahl gewinnen können, ist ihnen das bis auf weiterers grundsätzlich unmöglich, denn der Parlamentarismus in der BRD sieht es einfach nicht vor. Das Rechts-links-Schema sorgt dafür, dass nur in Ausnahmefällen die Opposition mal kurzfristig die Regierung übernimmt – so wie früher in der Schule der Klassensprecher mal die Aufsicht übernehmen durfte, wenn der Herr Lehrer kurzfristig weg musste.

Nein, ich kann es nicht glauben. Lieber lege ich mir die Prognosen als Fehlkonstruktionen zurecht. In sie sind doch all die Zahlen der Kohl-Ära eingegangen, tröste ich mich beispielsweise, und das führt zu falschen Gewichtungen. Die Zahl der Unentschiedenen ist noch sehr hoch, tröste ich mich, und die werden im letzten Augenblick wissen, was ich schon die ganze Zeit weiß, dass wir auf gar keinen Fall einen Kanzler Stoiber wollen. Ohnedies hänge ich doch der Überzeugung an, dass wir Bayern aus dem Bundesverband entlassen sollten, damit es sich dem Salzburger Land anschließe.

Fotohinweis: Michael Rutschky lebt als Publizist in Berlin.

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