: Chaoskompetenz als Hochseilakt
Stephan Uhlig ist künstlerischer Leiter des „Haus im Park“ im ZKH Bremen-Ost. Ein Gespräch über Erfahrungen und Perspektiven von Projektarbeit an den Grenzen von Kunst und Wissenschaft
„Rauschfähigkeit ist wie Chaoskompetenz ein gekonntes Scheitern. Man denke eher an einen riskanten Hochseilakt als an eine austarierte Waage.“ So beginnt ein Text des Erziehungswissenschaftlers Dietmar Kamper, der sich in dem Band „Rausch – Sucht – Lust“ findet. Dieser dokumentiert die Vorträge eines groß angelegten Projektes, das 1999/2000 im Haus im Park auf dem Gelände des Zentralkrankenhauses Ost stattfand. Seit über zehn Jahren veranstaltet Stephan Uhlig interdisziplinäre Kulturprojekte und „Wahrnehmungsexperimente“.
taz: Wann und warum entstand die Idee, solche Projekte zu veranstalten?
Stephan Uhlig: Das Veranstaltungskonzept des „Hauses im Park“ geht zurück auf das Pilot-projekt „Kunst und Psychiatrie“, das 1987 bis ’89 stattfand. Hintergrund war, dass wir – neben antipsychiatrischen Projekten wie „Blaumeier“ – Reformabsichten hatten, die auf Öffnung zielten.
Die „Problemfelder“ Psychiatrie und Krankheit sind aus unserem Alltagsbewusstsein ja weitgehend ausgegrenzt. Deswegen wollte man endlich auch die Verhältnisse, die krank machen oder Krankheit definieren, in den Blick nehmen. Aus dem „Kunst- und Psychiatrie“-Projekt wurde das „Kreativbüro“, das Projekte mit Patienten und Nichtpatienten an den Grenzen von psychiatrischer Klinik und Stadtteil veranstaltet hat.
Dabei kam uns zu Gute, dass es diesen Jugendstilsaal auf dem Gelände gab, der weitgehend ungenutzt war. Dort– in einer Region, die überhaupt kein Kulturhaus hatte –sollte ein Ort geschaffen werden, an dem „Patientenkultur“ in ein Programm gängiger (Stadtteil)Kultur eingebunden werden konnte. Wichtig war, dass kein exotischer Ort geschaffen wurde, sondern dass das Nebeneinander von vielen Dingen „normal“ war.
Öffnung meint aber doch mehr als dieses Nebeneinander.
Wir merkten, dass es „drinnen“ wie „draußen“ die gleichen Stigmatisierungen gab. Wenn man krank wird, wird einem bewusst, dass man plötzlich bestimmten Leistungsnormen nicht mehr gewachsen ist. Über die patientenorientierte Künstlerarbeit entwickelte sich ein Bewusstsein, dass das eigentliche Leiden der Patienten darin besteht, dass sie, auch wenn sie immer wieder über längere Phasen ‚normal‘ leben, oft aus sozialen Zusammenhängen wie Familie oder Arbeit herausfallen.
Folgte hier der Schritt in Richtung Beschäftigung mit gesellschaftlichen Hintergründen – in einer Öffentlichkeit, die über die Arbeit mit Patienten hinausgeht?
Ja. Weil man das in der direkten Konfrontation mit diesem Leiden so massiv erlebt, fragt man nicht so sehr danach, wie Gesellschaft an diese „Kranken“ anzupassen ist oder umgekehrt. Sondern: Wie entsteht eigentlich so was wie Norm? Wann und warum entsteht das Bedürfnis danach? Und schließlich: Warum ergibt sich daraus zwangsläufig dieses Leiden? Diese Fragestellungen bilden seitdem das Zentrum der interdisziplinären Arbeit.
Bauen die zahlreichen Projekte seitdem organisch aufeinander auf?
Ja. Sie sind immer von der Erkenntnis geleitet, dass Normen, die sich als Problemlöser ausgeben, eigentlich Teil des Problems sind. 1996 ergab sich, nachdem das Haus im Park einige Resonanz als Ort interdisziplinären Arbeitens erfahren hatte, ein Projekt über „Wien und die Jahrhundertwende“. Das Feld der Wahrnehmung rückte immer mehr in den Blick. Wenn der Mensch sich als wahrnehmendes Wesen wahrnimmt, ist diese Wahrnehmung etwas Gestaltetes. Ästhetik wurde also immer wichtiger.
Kam mit der Wahrnehmung auch eine Ausweitung in der Darstellung?
Vor „Rausch – Sucht – Lust“ kam der Kontakt zum Jungen Theater zustande. Wir begannen, die Themenabende um die wissenschaftlichen Zugänge herum zu inszenieren. Dabei sollten verschiedene Zugänge – Wissenschaft, Musik, Theater und so weiter – nicht gegeneinander ausgespielt, sondern miteinander ins Gespräch gebracht werden.
Dieses Projekt bedeutete auch insofern einen entscheidenden Schritt, als wir nicht mehr rückblickend auf Geschichte schauten, sondern dass wir mittendrin waren. Diese Themen – ob Fun-Sport, Körper-Kult oder das Nachdenken über Moden und Gemeinschaftsgefühle – gingen uns unmittelbar etwas an. Es wurde zunehmend an Perspektiven oder auch Pespektivlosigkeit gearbeitet. Dies wird nochmals verschärft im kommenden Projekt, dass nach zeitgemäßen Sinnstiftungen, Sinninszenierungen und Utopien fragt. Fragen: Tim Schomacker
Der Band „Rausch – Sucht – Lust“ ist gerade im Gießener Psychosozial-Verlag erschienen. Es hat 215 Seiten und kostet 24,80 Euro. Das nächste Projekt des Haus im Park heißt „sinn macht nichts“ und beginnt im kommenden Oktober
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen