: Zeit für einen Neuanfang
Naturkatastrophen haben auch eine verheißungsvolle Seite: Sie wirken gemeinschaftsstiftend. Das verbindet die aktuellen Überschwemmungen etwa mit der großen Hamburger Flut aus dem 1962
von JAN FEDDERSEN
Der Reporter schien ganz stolz auf seine Schlussbemerkung. Am Ende seines Berichts aus einem sächsischen Hochwassergebiet sagte er: „Vorhin habe ich Kinder gesehen, die in der Stadt umherliefen und lachend riefen: ‚Der Deich bricht, der Deich bricht.‘ “ Damit gab er ab an den Moderator – und der war einen Moment sprachlos. Sein Schweigen war der einzige Sand im Getriebe der Flutkatastrophensendungen, die seit voriger Woche Abend für Abend über alle Sender gingen. Seine Stille war deshalb seltsam, weil er wie alle anderen Moderatoren von „ARD-Brennpunkten“ und „ZDF-Spezials“ noch jeden Filmbeitrag mit Floskeln wie „Leid der Opfer …“ und „unvorstellbares Ausmaß“ abzumoderieren pflegte.
Aber nach dieser Beobachtung – die der Reporter trotz des dominierenden Sounds „winselnder Ängstlichkeit“ (Altkanzler Helmut Schmidt über die Deutschen in Katastrophenlagen) cool, fast sympathisierend referierte – hätte das nicht gepasst: dass da Kinder dem Unglück eine lustvolle Seite abgewinnen können. Fragt sich nur: Was ist denn die spannende, angenehm erregende, ja verheißungsvolle Seite einer Katastrophe? Die Bilder aus den Gebieten zwischen Prag und Hitzacker geben Aufschluss, auch ohne dass irgendwelche Moderatoren sie deuten müssen. Denn man sieht seit Tagen Menschen, die zwar nicht um ihre Existenz, wenigstens aber um deren Grundlagen kämpfen. Und zwar, das ist der Clou, nicht allein, sondern mit der Hilfe von Menschen aus allen Teilen der Republik.
Flut schafft Gemeinschaft. Nicht nur dass der Deutschen weltweit bewunderte Hilfsinfrastruktur (Freiwillige Feuerwehren, Technische Hilfswerke, Bundesgrenzschutz, Bundeswehr) binnen weniger Stunden hoch motiviert und einsatzfähig war. Vielmehr meldeten sich auch tausende andere Menschen, um bei Sandsackketten und Deichblockaden mitzuschaffen. Man hörte es aus den Akzenten heraus, wenn dem Sächsischen sich ein Spur Schwäbisches beimischte. Aber eindrücklicher noch: Man schien Freude zu haben, bei etwas mitzumachen, das erkennbar Sinn machte. Mehr Sinn als jeder Alltag. Mehr als jede Routine zwischen Aufstehen, Arbeiten, Kochen, Feierabend und dem Rest. Eine Frau an einem Deich in der Nähe Mühlbergs in Brandenburg sagte in die Kamera: „Es ist eine tolle Gemeinschaft. Bald ist es ja wohl wieder vorbei damit.“
Inzwischen können sogar die Soldaten und THW-Helfer darüber berichten, dass viele Menschen unter der vielen Sonne und Wassermangel litten. Außerdem müssten viele Helfer vor Erschöpfung bewahrt werden. Aber, so fügte ein Helfer an, das sei ein Ratschlag, der meist nicht befolgt würde, weil doch die Dämme sonst brächen. Mag sein, dass das der Kummer ist; vermutlich wird aber auch die Sorge eine Rolle gespielt haben, dass diese Flut viel zu schnell verebbt und erstens das Ausmaß der Schäden (und damit der Nervereien im Alltag, sie wieder zu bereinigen) sichtbar wird – und zweitens die Gemeinschaft wieder zerfallen wird.
Dieses Phänomen ist nicht neu. Zuletzt war es vor einem knappen Jahr in New York City zu bestaunen. Eine Stadt, deren Bewohner gewöhnlich alles auf ihren Individualismus halten, auf ihre Smartheit und auf ihr Tempo, lernt sich nach einem Terrorattentat auf zwei ihrer wahrlich nicht beliebtesten Hochhäuser als sorgend, mitfühlend und helfend kennen. Auch damals waren die Bilder vom Tod und vom Sterben überdeckt von solchen des Trostes, der Hilfe, des Klimas stand by your (wo)man, und zwar in der Supremeversion: (Fast) weltweit wurde die Stadt mit Solidarität (in Worten, in Taten) bedacht. Das hätte ein singulärer Angriff auf das Pentagon oder auf das Weiße Haus allein nicht bewirken können: Es brauchte zivile Helden, und das waren zunächst die Feuerwehrmänner, dann auch die Nachbarn der Opfer. New York City avancierte binnen weniger Wochen zu einer Nachbarschaft, wie sie selbst in Dörfern nur noch selten besteht. Bürgermeister Rudy Giuliani wirkte plötzlich wie ein Bürgermeister, nicht wie ein Manager der diversesten Stadt der Welt.
Die erste bundesdeutsche Katastrophe der Nachkriegszeit hat eine Politikerkarriere vielleicht nicht generiert, aber extrem befördert. Helmut Schmidt, ein Sozialdemokrat aus deren zweiter bis dritter Reihe, war Ende 1961 zum Hamburger Innensenator befördert worden. In der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 kam er von Berlin zurück, wo er eine Innenministerkonferenz zu besuchen hatte. Tagelang hatte es von der Nordsee kalt gestürmt. Der Orkan und ungünstige Tideverhältnisse pressten in die Elbe, als sei sie ein Trichter, immer mehr Wasser hinein. Als die Deiche brachen, überschwemmte das Wasser die Hamburger Elbinsel mit ihren Stadtteilen Wilhelmsburg und Veddel. 60.000 Menschen wurden im Schlaf von den Fluten überrascht; es hatte vorher nur wenig dramatische Warnungen der Sicherheitsbehörden gegeben. Ein Senatskollege von Helmut Schmidt ließ sich telefonisch über das Hochwasser informieren, aber die Gefahr ahnte er nicht und ging wieder ins Bett. Erst am Morgen des 17. Februar, als schon über 300 Menschen ertrunken (oder erfroren) waren, begannen die Evakuierungsarbeiten. Helmut Schmidt hatte im Rathaus das Kommando (im durchaus zivil-militärischen Sinn) übernommen und sogar einen Verfassungsbruch riskiert (und begangen), als er Soldaten der Bundeswehr und der Armeen von Nato-Partnern um dringende Hilfe ersuchte.
Tausende konnten gerettet werden; vor allem Menschen, die stundenlang auf den Dächern ihrer Häuser verbracht hatten. Kinder erinnerten sich später an eine aufregende Zeit. Eines sagte, es hätte endlich mal Fernsehen gucken können, solange es wollte. Ein anderes guckte nur aus der Fensterluke seines Zimmers, sah die Elbe, sah das Wasser immer höher steigen und fand das Bild einfach schön, weil auf den Fluten Brocken einer leichten Eisschicht tanzten. Ein drittes freute sich, so berichtete es viele Jahre später, über den ewig in Kneipen hockenden Vater, der, diesmal rechtzeitig nach Hause gekommen, noch den Teddy retten konnte.
Helmut Schmidt hat in Hamburg einen seither unzerstörbar guten Ruf. Ohne seine in der Wehrmacht erlernte Kunst des Krisenmanagements, heißt es (anerkennend oder kritisch anmerkend), wäre es nicht gelungen, den chaotischen Bürokratenhaufen im Rathaus zu koordinieren. Und ohne die Flutkatastrophe hätte die Sozialdemokratie auch nicht so viele Jahre Hamburg regieren können. Bis zu jener Nacht wohnten auf jener Elbinsel, in ihren Gartenkolonien und Behelfsheimen, nur Menschen, die eben nicht das gute Hamburg waren. DDR-Flüchtlinge, Hafen- und Gelegenheitsarbeiter, Ausländer, also die ersten Arbeitsmigranten, Spanier, Italiener, Jugoslawen. Der übliche Proletenmix – weit weg vom oberhalb der Elbe gelegenen Großbürgerviertel Blankenese.
Durch „die Flut“ (eine in Hamburg gängige Chiffre, die keiner Erläuterungen mehr bedarf) wurde ein Wohnungsbauprogramm in Gang gesetzt, das zehn Jahre vor dem Plan jenen Proleten Neubauwohnungen (sprechender Titel jenes Wohnungskonzerns: Neue Heimat) zu beziehen ermöglichte. Der rußige Charme des Viertels war an den Stadträndern nicht wieder zu beleben – aber das vermissten zunächst nur die Kinder, nicht jedoch deren Eltern, deren Sehnsucht eben war, nicht mehr in kaum heizbaren Hütten zu leben, die nicht mal eine echte Straßenadresse hatten.
Die Opfer der Flut (in Hamburg, im Oderbruch vor vier Jahren), auch die Opfer des 11. September in New York haben freilich eine Erfahrung gemacht, die den Hochwassergeschädigten von Sachsen, Sachsen-Anhalt bis Mecklenburg-Vorpommern noch bevorsteht: Objekt des Neids (um Anteilnahme) und der Missgunst (ums Geld) der Nichtgeschädigten zu werden. Haben sie zu viel Geld bekommen? Sind die Spenden wirklich nur für humanitäre Zwecke ausgegeben worden? Hat sich da einer noch ein neues Dach erschlichen?
Mehr aber haben diese bösen, verständlichen Gefühle mit der begründeten Ahnung zu tun, dass da Menschen von etwas heimgesucht wurden (ob durch die Natur oder durch Terror), das ihnen einen Neuanfang ermöglicht, eine Neudefinition dessen, was über die tägliche Routine hinausweist. Aufbaujahre, ob im nationalen Maßstab oder in persönlicher Hinsicht, sind die kraftraubendsten und prekärsten überhaupt. Was danach kommt, ist immer langweiliger.
An der Elbe ist momentan viel Anfang. Geld genug, um ihn zu stemmen, ist vorhanden. Sie werden ihn glänzend meistern.
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