: Von Mao lernen!
Bei der Flutbekämpfung outet sich Kanzler Gerhard Schröder überraschend als Linker:Er dient dem Volk, indem er ihm vertraut. Das Volk hat das sehr gut verstanden
Erfolgreiche Flutbekämpfung ist linke Politik. Beim Kampf gegen das Wasser zeigt sich mehr als auf jedem anderen Feld, dass Politik ohne Hilfe und Solidarität des Volkes nicht funktioniert. Flutbekämpfung ist damit zugleich ein Gradmesser für das Verhältnis zwischen Volk und Regierung: Denn das Volk hilft nur einer Regierung, der es vertraut.
Im entscheidenden Moment der Elbeflut war Gerhard Schröder wieder ein Linker. Man spürte, dass er keine Angst vor dem Volk und dessen Not hatte. Dem Kanzler fehlt der Instinkt vieler Herrschenden, die sich in der Not verstecken – wie George W. Bush, der sich am Tag der Anschläge auf das World Trade Center in einen Atombunker nach Nebraska bringen ließ.
Schröder dagegen reagierte auf die Flut mit der von Linken nach Hiroshima geprägten Formel: „Wir sind alle Opfer.“ Statt die Schuld an der Katastophe bei den Betroffenen zu suchen, vergesellschaftete er sie mit der Rücknahme seiner Steuerreform. „Das schmeckte nicht nur nach klarer Führung, sondern nach Selbstdisziplin mit einem Schuss Selbstopfer“, lobt der konservative Londoner Economist – obwohl er Schröders Vorgehen für ökonomisch fragwürdig hält. Erst diese Kritik aber charakterisiert Schröder als Linken: Denn der „Dienst am Volk“ (Mao Tse-tung), also der instinktive Aufruf zur Solidarität, war ihm in den vergangenen Tagen wichtiger als eine wirtschaftliche Logik, nach der es natürlich eine wachstumspolitisch effizientere Antwort auf die Flut gegeben hätte als die Umverteilung der Folgekosten auf die Steuerzahler.
An dieser Stelle berührt die Frage nach der richtigen Flutbekämpfung die Grundsatzdebatte über die richtige Fortschrittspolitik schlechthin. Wie systemorientiert muss, wie voluntaristisch darf sie sein? Die Adepten des Internationalen Währungsfonds (IWF) argumentieren heute rein systemorientiert; Mao argumentierte seinerzeit rein voluntaristisch. Das Problem der Debatte: Die IWF-Thesen kennt heute jeder, weshalb auch ihre Gegner meist nur systemorientiert antworten. Mao dagegen wurde in den meisten Teilen der Welt vergessen.
Das gilt natürlich nicht für China – sonst wäre die Flutbekämpfung dort heute ein menschliches Drama, das sich die Deutschen auch mit ihren frischen Erfahrungen vom „Jahrhunderthochwasser“ der Elbe nicht vorstellen könnten. Noch gestern waren in Maos Geburtsprovinz Hunan rund um den riesigen Dongtingsee sage und schreibe mehr als eine Million Menschen mit Flutbekämpfungsmaßnahmen beschäftigt. Die Massen schleppten Sandsäcke und halfen bei der Evakuierung von 600.000 Mitbürgern. Zehn Millionen wären betroffen, würde der See heute oder morgen über seine Ufer treten. Doch bisher wurde vom Dongting, einem Gewässer von der Größe Luxemburgs, nicht ein einziges Flutopfer gemeldet. Warum? Weil die Anrainer vor Not und Wetter nicht die Augen verschließen, sondern stattdessen glauben, dass ihre Solidarität im Kampf gegen die Fluten, wenn sie schon keine Wunder vollbringt, doch zumindest das Menschenmögliche möglich macht.
Nun haben die chinesischen Kommunisten – allen voran ihr Großer Steuermann – im Namen des Fortschritts horrende, unentschuldbare Fehlleistungen vollbracht. Der „Große Sprung nach vorn“, Maos Versuch, aus Bauern Schmiede zu machen, war die schlimmste: Sie führte zu einer Hungersnot, die 30 Millionen Menschen das Leben kostete. Auch bei der Hochwasserprävention haben die Kommunisten alle nur denkbaren Fehler gemacht, wie heute jede westliche Umweltorganisation bereitwillig auflistet. So wurden in China seit der Revolution von 1949 über 22.000 Großstaudämme errichtet. Aber das Land wurde dadurch nicht sicherer vor Überflutungen. Stattdessen mehren sich die „Jahrhunderthochwasser“ als Folge der Industrialisierung (z. B. aufgrund trockengelegter Seen und starker Abholzung, die die Erosion und damit den Wasserabfluss beschleunigt). Ein Studie des deutschen Max-Planck-Instituts sagt gar voraus, dass sich der Abstand zwischen den chinesischen Katastophenhochwassern von heute fünfzig auf fünf Jahre im Jahr 2050 reduzieren wird.
Einen Fehler jedoch haben die chinesischen Kommunisten nie gemacht: das Hochwasserproblem den Menschen aus der Hand zu nehmen. Die Fähigkeit zur Massenmobilisierung, ein Relikt der Mao-Zeit, ist bis heute erhalten geblieben. Dass sie im Ernstfall funktioniert, darf auch als Beleg dafür gelten, dass viele Chinesen ihr Vertrauen in die Regierung bewahrt haben – nicht weil sie die Fehler der Kommunisten nicht erkannt hätten, sondern weil ihnen die unveränderte Priorität der Kommunisten, im Notfall an der Seite der Betroffenen zu stehen, glaubwürdig erscheint.
Im systematischen Denken westlicher Fortschrittspolitiker wird solches Volksempfinden in der Regel vernachlässigt. Hier geht es darum, wie die Massen materiell befriedigt werden können und in den Genuss bürgerlicher Freiheiten kommen. Im Vordergrund steht das Individuum als Konsument und Rechtssubjekt. Massenmobilisierungen gelten dagegen auch wegen der Erfahrungen mit den Großen Sprung nach vorn und Maos Kulturrevolution als prinzipiell antidemokratisch und bürgerfeindlich. Doch sie sind es eben nicht prinzipell – wie das Sandsäckeschleppen an der Elbe auch den Deutschen in Erinnerung gerufen hat. Massensolidarität unter einer vernünftigen Führung ist im Gegenteil Vorraussetzung für die Verteidigung jedes demokratischen Gemeinwesens. Benötigt aber wird sie aktuell vor allem in der Dritten Welt.
Der in Bangladesch geborene Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen ist eine der wenigen auch im Westen akzeptierten Autoritäten, die die Sackgasse des heutigen Fortschrittsdenkens beschreibt. Der Ökonom forderte etwa die indische Regierung dazu auf, „auch mal von Mao zu lernen“. Sen klagt hier einen voluntaristischen, vom unmittelbaren Wunsch nach Gerechtigkeit geprägten politischen Aktionismus ein, der zwar ohne Korrektur – wie im einst maohörigen China – ins Desaster führen kann, ohne den sich aber auch alle Armutsbekämpfung in der Welt bislang als Illusion erwiesen hat. „Alle Regierungen in Neu-Delhi haben den Kampf gegen die soziale Rückständigkeit einfach nicht zur Priorität gemacht“, klagt Sen an. Grundsätzlich fehle der Glaube, irgendetwas könne jenseits ökonomischer Gesetze bewirkt werden.
Gerhard Schröder steht heute wieder als Linker da, weil er den Kampf gegen die drohende Verarmung der Elbeflutopfer zur Priorität für Rot-Grün gemacht hat. Das Wählervolk wird ihm zum Dank den Rücken stärken – weil er nicht im Schutz eines langfristig kalkulierten Opportunismus regieren konnte, sondern unter dem überwältigenden Zugzwang von Ereignissen reagierte, die das beste mobilisierten, was in ihm steckt. Schröder war und ist eben trotz all seiner Fehler ein Mann aus dem einfachen Volk – wie seinerzeit Mao. Wenn Schröder das hilft, die Bundestagswahl zu gewinnen – umso besser. GEORG BLUME
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