: Die letzte Wahl
DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY
Die Enttäuschung ist doch benennbar. Offenbar kann keine Regierung sich über die Interessen der Industrie hinwegsetzen, und das schmerzt, wenn man die Hoffnung gehabt hatte, dass Rot-Grün irgendetwas anders machen würde als die Vorgängerregierung. Es gibt internationale Verträge, politische wie wirtschaftliche, die jeder Regierung den Handlungsspielraum einschränken. Warum soll ich wählen, wenn es nichts ausmacht, dass ich wähle … Realpolitik ist wie ein Panzer, der über ein Blumenbeet fährt, nur dass die Blumen die Ideale sind.
Gespräch mit Nichtwählern, taz vom 31. August/1. September 2002
Wenn am 22. September Rot-Grün verliert und der Wähler den „Fahlen aus Bayern“ (Urs Theckel) zum Bundeskanzler bestimmt, wird dies die letzte Bundestagswahl gewesen sein, an der ich teilgenommen habe – bislang habe ich keine seit 1961 (das war meine erste) ausgelassen.
Aber damit wäre dann Schluss. Eine furchtbare Drohung, ich weiß, ein heroischer Akt des Widerstands. Meinen Übertritt zu den Nichtwählern würde ich freilich nicht erklären mit den Gründen, welche in unseren Kreisen dafür gern geltend gemacht werden: dass mit der Wahl von Rot-Grün 1998 herrliche Zeiten hätten anbrechen können; dass aber Politiker, und das gilt auch für rot-grüne Politiker, indem sie an die Macht gelangen, von der Macht notwendig korrumpiert werden; flugs verraten sie ihre Ideale, führen Krieg gegen Jugoslawien und Afghanistan und treiben die Globalisierung voran, statt mit der gesamten Bundesregierung bei Attac einzutreten …
Nein, was Enttäuschung und Desillusionierung angeht, habe ich schon ganz andere Dinge hinter mir. Der hoch idealisierte Willy Brandt wirkte, endlich zum Kanzler gewählt, am Radikalenerlass, an den so genannten Berufsverboten mit; und Helmut Schmidt, der in unseren Kreisen schwer gehasst wurde, profilierte sich vor allem durch gesetzgeberische und politische Maßnahmen gegen die RAF. Zwar hielt auch ich die K-Gruppen, deren Mitglieder gleichzeitig Studienrat und Berufsrevolutionär sein wollten, für eine Qual, und die regelmäßigen Nachrichten über die Aktivitäten der RAF waren das nicht weniger. Aber hatte Willy Brandt nicht versprochen, mehr Demokratie zu wagen? Jetzt befand sich die BRD auf dem Weg zum Überwachungsstaat …
Nein, nicht weil Schröder und Fischer das rot-grüne Projekt verraten hätten, würde ich zu den Nichtwählern übertreten. Sondern weil Der Wähler, indem er Rot-Grün entlässt, augenscheinlich darauf verzichten würde, den Grundmechanismus des Parlamentarismus, die allgemeinen Wahlen, angemessen zu nutzen.
Denn dass ungefähr seit Dezember 01 die Opposition die Regierungsparteien überholte und seitdem der Wolfratshausener als zweiter Kanzler der Berliner Republik droht, das kann ich beim besten Willen nicht dahingehend verstehen, dass halt Der Wähler das rot-grüne Projekt als gescheitert erkenne (Verrat an Idealen, Arbeitslosenzahl). Vielmehr kam es mir so vor, als hätten wir es bei der sich flink ausbreitenden Überzeugung, wir haben eine ganz, ganz unfähige Regierung, die nur noch Fehler macht und schleunigst abgewählt zu werden verdient – es kam mir so vor, als hätten wir es hier mit einem craze, wie man in Kalifornien sagt, zu tun.
Bei der Parlamentswahl ginge es nicht mehr um politische Grundrichtungen und die Selektion des Personals, das die Geschäfte führen soll. Vielmehr würde sich die Beseitigung von Schröder/Fischer umstandslos einfügen in die Reihe der anderen crazes, mit denen sich die Gesellschaft schon so lange vergnügt, die Rechtschreibreform und die Bildungskatastrophe („nach Pisa …“), die bovine spongiforme Enzephalopathie und der Elektrosmog, die Kampfhunde und die Computerspiele (als Programmierung zum Amoklauf). Nach einer Saison pflegt der craze zu verfliegen; verblüfft wischt sich Der Wähler die Augen und versteht kaum, warum jetzt Dr. Stoiber und seine bayerischen Kader das Kanzleramt besetzen.
Unterdessen weiß man, wie die große Medienerzählung einen craze ausgestaltet. Es kann doch nicht wahr sein, dass Der Wähler – nach dem verflixten ersten Jahr – der Regierung in den Umfragen konstant seine Zufriedenheit meldet; dass Gerhard Schröder anhaltend mit seinen Sympathiewerten vor Edmund Stoiber liegt. Das ist doch nicht erzählenswert, da muss man doch was machen. Beim Umfragegehudel nach dem TV-Duell, wie Kai Diekmann daraus flink den Sieg des Wolfratshauseners zauberte, dabei lagen die Mechanismen blank und waren deshalb schön zu sehen.
Dass Springer ohnedies gegen Rot-Grün ist, scheint mir dabei sekundär. Auch eine Zeitung wie diese hier stellte sich sofort auf den neuerlichen Regierungswechsel ein und bastelte an Erklärungen. Das erklärt sich aus den Regeln der Medienerzählung – wie unterdessen auch manche Leitartikler beobachten, der Zug zur Selbstreferenz ist also unwiderstehlich. Unabhängig von der politischen Grundorientierung versuchen die Medien sich die Parlamentswahl anzueignen; in einem Akt der Selbstermächtigung suchen sie sich als die Instanz zu etablieren, welche den Ausgang bestimmt. –
Es gibt noch eine zweite, sogar stärkere Begründung, weshalb ich nach der Entlassung von Rot-Grün zu den Nichtwählern wechsle. Ich durfte das hier schon einmal darlegen (taz vom 24. 7. 2002): Wenn nach 16 Jahren Kohl Der Wähler Schröder/Fischer nur vier Jahre zumisst, bedeutet das die anhaltende Herrschaft des Rechts-links-Schemas, das den Parteien der Rechten das Regieren überträgt, den Linken das Gegenhalten, die Opposition. Rot-Grün führte die Geschäfte nur ausnahmsweise, stellvertretend. Die Regierungs- und die Oppositionsparteien wären quasianthropologische Konstanten, keine politischen Funktionen, die Der Wähler von Fall zu Fall besetzt. Die Rechte regiert gewissermaßen in dynastischer Kontinuität; übernimmt für kurze Zeit die Linke, übt sie eigentlich bloß die Regentschaft aus, weil der König erkrankt ist. Nach vier Jahren wieder kerngesund.
Klar, auch in unseren Kreisen beherrscht manche Kader der Gedanke, allein die Opposition biete den Ort für radikale Politik und unzweideutige Gedanken. Regieren fordert die Aufweichung von Positionen – hätten nicht Schröder/Fischer mit dem Beginn des Jugoslawienkrieges sofort zurücktreten müssen, um den Dreck den anderen zu überlassen? Wurde die Abschaltung der Atomkraftwerke nicht viel zu langfristig angelegt? Müsste der Bush-Administration nicht viel entschiedener widersprochen, ja praktischer Widerstand gegen sie organisiert werden?
In der Belletristik finden sich bei Friedrich Schiller Jünglinge, die mit schöner Radikalität dem Weltlauf opponieren und dabei untergehen. Seitdem nennt man so etwas Idealismus, und inzwischen tun sich auch genug weibliche Jünglinge damit hervor. Bloß bildet die Reinerhaltung der Wünsche und Ideale, wie ich als älterer Onkel sagen muss, weder einen politischen noch einen Lebenszweck.
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