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Ein Anschlag zwischen zwei Türmen

Eine Zelle internationaler Kulturaktivisten verübt seit drei Monaten ein popkulturelles Attentat auf die Zwillingstürme von Hellersdorf. Die Videobilder eines Dokumentarfilms belegen: In der Plattenbausiedlung herrscht Ausnahmezustand

„Anschlag kann Terror meinen, aber auch das Anbringen von Information.“„Die Hellersdorfer Twin Towers, unser Wahrzeichen, wie in New York.“

von SEBASTIAN HEINZEL

Aufruhr in der Hellersdorfer Straße 173. Studenten hetzen durchs Treppenhaus, sprühen große blaue Buchstaben auf ein Banner, drei junge Frauen nähen an Hochleistungsnähmaschinen Seile in soliden Flaggenstoff. Das schwere Tuch wird in den siebten Stock gehievt und heruntergelassen. Unten warten Aktivisten, die das Banner am anderen Nachbargebäude befestigen. Nach sechs Stunden Arbeit weht ein 30 Quadratmeter großes Transparent zwischen den Zwillingstürmen. Die Menge am Fuße der Hochhäuser johlt und applaudiert. Weithin ist lesbar: „www.anschlaege.de“.

„Eine Nacht-und Nebel-Gangster-Aktion.“ Christian Lagé, Student der Kunsthochschule Weißensee und einer der Organisatoren des Plattenbauexperiments „Dostoprimetschatjelnosti“ (taz vom 1.7.02) erinnert sich mit sichtlichem Vergnügen an den 25. Juni. Die subversive Bewerbung der Internetadresse des Projekts war der inoffizielle Auftakt des kulturellen Anschlags, den die Künstler seither auf ihre Umgebung verüben. 53 Freischaffende aus 17 Nationen bewohnen und gestalten eines der beiden Punkthochhäuser in der Nähe des Cottbusser Platzes.

„Anschlag kann einen terroristischen Anschlag meinen, aber auch das Anbringen von Information“, formuliert Lagé. Eine Doppeldeutigkeit, die in Hellersdorf nicht jedem bewusst ist. Kaum hängt das Banner, steht die Polizei vor der Tür. Verunsicherte Anwohner haben die 110 gewählt. Der Notruf in Hellersdorf bricht kurzzeitig zusammen. Polizeiobermeister Frank Deschan hatte Dienst: „Die Love Parade stand bevor, in den Zeitungen war von Anschlägen die Rede. Daraufhin haben wir reagiert.“ Einen Tag lang ließendie Bewohner das Banner hängen. Dann lenkten sie ein, um es sich nicht gleich zu Beginn mit den Nachbarn zu verscherzen.

„Viele haben ja kein Internet und konnten nicht nachschauen. Die waren der Meinung, hier sitzt eine terroristische Zelle, die ein Ausbildungscamp betreibt.“ Die Parallele zu den Anschlägen in New York vor genau einem Jahr ist für Lagé kein Tabu. Er sei kein Fan von Ussama Bin Laden, aber einige innenpolitische Konsequenzen des 11. September seien inakzeptabel: „Die Verschärfung des Ausländergesetzes, die Erleichterungen der Möglichkeiten des Verfassungsschutzes. Das hängt alles mit diesem Wort zusammen.“ Anschläge. Die Angst davor sitzt tief in Hellersdorf.

Eva Sorbiak ist seit sieben Jahren eine der 130.000 EinwohnerInnen in Hellersdorf. Furcht vor Terror habe sie nicht. Aber das neu bewohnte Hochhaus hat sie scharfsinnig als bedrohliches Asylbewerberheim ausgemacht. „Da müssen Ausländer drin wohnen. Denn ein normaler Mensch verhält sich anders.“ Blaue Kästen haben die Künstler an den Beton montiert, an provisorischen Wäscheleinen trocknet Kleidung, ein Leuchtschild fragt: „Heimat?“ Für die 45-Jährige hat das alles nichts mit Kunst zu tun: „Es gibt Wäscheständer, wo man das verstecken kann, oder man macht sich den Balkon schön zurecht mit Schirmchen.“

Sorbiaks Unmut hat einen Grund. Seit 1. September ist die ungelernte Küchenkraft arbeitslos. 30 Jahre lang habe sie für den Staat gearbeitet. Jetzt glaube sie an gar nichts mehr. Aber eins stehe fest: Die Ausländer seien schuld, „die nehmen uns regelrecht die Arbeitsplätze weg“. Dass „Dosto“ vorerst ein temporäres Experiment verschiedener internationaler Künstler ist, weiß sie nicht. Neu bespritzt, könnte ihr der Bau gefallen: „Da könnte ich mir später als Rentnerin eine Zweiraumwohnung denken.“

Gegen mögliche Ressentiments der Anwohner anzukämpfen und ein nachbarschaftliches Verhältnis aufzubauen war anfangs noch engagiertes Ziel der Bewohner. Man wollte sich abgrenzen vom Hype um die Platte, integrativ sein und „neue Ansätze liefern zur Kommunikation und Kultur in Großsiedlungen.“ Aber die Einladungen zu Festen und Ausstellungen fanden nur müde Resonanz seitens der Anwohner. Viele der Künstler entschlossen sich daraufhin, ihre Energie in eigene Projekte zu investieren. Als berufener „Kulturaktivist“ baut Espen Justdal Räume „mit einem speziellen Gefühl, wo Leute beginnen zu kommunizieren“. Seine „Barbadosto“ im Keller hat er mit Sand ausgeschüttet und einen Ort mit karibischem Flair kreiert. Aber der Norweger bleibt nachdenklich: „Wenn es perfekt gelaufen wäre, hätten wir mit der Umgebung kommuniziert. Wir haben es versucht, aber die Leute scheinen Angst zu haben.“

Despina Stokou aus Athen hat den ersten Schritt gewagt und bei den Nachbarn geklingelt. Ihr Thema sind Balkone: „Die letzten Grenzen deiner eigenen Welt, von denen du die Außenwelt beobachtest.“ Inmitten ihres Zimmers in der fünften Etage hat sie sich einen kleinen Balkon gemauert. Für die Dekoration will sie Geranien verwenden. Die Balkone ihrer Gegenüber inspirieren die freie Künstlerin. Da findet sie es nur fair, dass sie die Blumen auch von den Nachbarn bekommt. Mutig begibt sie sich zum Haus schräg gegenüber. Frau Godulla öffnet ihr die Tür und ist so überrascht, dass sie der freundlichen Griechin wiederspruchslos einen Kasten roter Geranien überlässt. „Den können sie jetzt einen Monat lang in der Ausstellung sehen, und dann kriegen sie ihn wieder“, verspricht Despina und verlässt strahlend das Haus. Sie hat jedoch nicht das Gefühl, dass Frau Godulla zu Besuch kommt.

„Fernwärme“ heißt die Ausstellung, die das Ergebnis aller wohnkünstlerischen Arbeiten zeigt. Der Begriff steht für die Anziehungskraft, die Plattenbauwohnungen mit Zentralheizung in der DDR ausübten. Symbolisch soll er die warmherzige Art und Weise beschreiben, mit der die Künstler aus fernen Ländern den Hellersdorfern begegnen: „Es ist ein sehr liebevoller Anschlag“, meint Organisator Lagé. „Nicht, dass wir ein großes Hippiehaus wären, aber wir versuchen dieser kalten Struktur, diesem Beton, diesen Rechtecken etwas Farbe, Emotionen und eine sehr lebendige Anwesenheit entgegenzusetzen.“

Die beiden Hochhäuser an der Einfahrtsschneise zum Stadtbezirk stehen seit vier Jahren leer. Der letzte Mieter war das Bezirksamt, als die Gegend noch das Zentrum von Hellersdorf war. Jetzt regiert der Bürgermeister im neuen Rathaus in Helle-Mitte. „Ich weiß von vielen Leuten, die es sehr traurig finden, dass am Eingang ihres Stadtbezirks zwei heruntergewirtschaftete Häuser stehen“, sagt Lagé.

Dabei liegen sie den Anwohnern am Herzen. „Det sind die Hellersdorfer Twin Towers, unser kleenet Wahrzeichen wie in New York, verstehste?“ Laurent Wrik ist 21 Jahre alt, wohnt seit fünf Jahren in der Siedlung. Er fühlt sich „wie jemand, der im Ghetto lebt“. Die Ausstellung gefällt ihm: „Schon wieder eine Ecke, die man frei kriegt in seinem Hirn.“ Auch Georg Brozek vom Bürgerbüro „Lokale Agenda 21“ ist zur Ausstellung gekommen: „Diese beiden Punkthochhäuser sind einmalig, nicht von der Bauweise, sondern wie sie hingestellt sind.“ Fährt man aus südlicher Richtung gen Hellersdorf, tauchen die Zwillingstürme am Horizont auf. Die Zwölfgeschosser sind Landmarks des dichten Betondschungels im Hintergrund. Aus einem Fenster weht die Plastikplane eines irischen Künstlers. Im Sonnenlicht wirkt sie wie eine Rauchfahne.

„Es ist ein kultureller Anschlag, obwohl er nicht als solcher hervorkommt“, findet Martin Luce. „Wir vermarkten uns als ein Stück Popkultur, weil es die einzige Möglichkeit ist, ins Bild der Öffentlichkeit zu gelangen.“ Für den Architekturstudenten aus Hamburg hat der Anschlag keine große Wirkung: „Man muss persönlich herkommen, um zu weiteren Hintergründen vorzudringen.“ Er werde oft gefragt, wie das Problem der Platte denn zu lösen sei. Dann antworte er: „Es ist kein räumliches, sondern ein geistiges Problem. Der Nutzer kann sich das Gebäude umformen, indem er es anders annimmt.“

Die Gestaltung der 99 Räume erforderte einigen Umbau. Wände mussten weichen, zum Beispiel für das Kino in der neunten Etage. Dass dabei überdurchschnittlich viel Lärm entstand, haben viele Anwohner der Plattenbau-WG nicht verziehen. Die meisten sind froh, wenn die Störenfriede wieder ausziehen. Anja Maukert aber nicht. Die 74-Jährige litt zwar auch unter dem Krach, „um halb zwölf haben die gehämmert wie die Idioten“, aber als ehemalige Kunstlehrerin ließ sie es sich nicht nehmen, zur Ausstellungseröffnung zu kommen. Dort findet sie „eine Lebensfreude, etwas Lustiges, nichts Stereotypes“. Besonders die exotischen Persönlichkeiten haben es ihr angetan. Die Kommunikation ist noch etwas hilflos: „What hat you fürn Krach jemacht, Herr Künstler?“, ruft sie mit erhobenem Zeigefinger einem Bewohner zu.

Auch das Schulenglisch von Polizeiobermeister Andreas Simon habe „für Gelächter auf beiden Seiten gesorgt“. Der Ordnungshüter ist von dem Projekt fasziniert: „Das bringt Leben in die Bude, vorher war das alles wie ausgestorben“, sagt er und nickt anerkennend: „Man unterhält sich, man verständigt sich. Das ist nur positiv.“ Nach dem Auszug der Künstlerkommune im Oktober ist der Spuk vorbei. Die Zukunft der Häuser ist ungewiss. Ein Abrissantrag bedroht ihre Existenz. Das wäre sozusagen Ground Zero in Hellersdorf.

Sebastian Heinzel hat zusammen mit Florian Riegel einen Dokumentarfilm über das Hochhausprojekt gedreht. Er wird am Samstag, 14. 9., um 21 Uhr im Kino der Hellersdorfer Straße 173 gezeigt. Dort läuft bis 31. 9. die Ausstellung „Fernwärme“. Öffnungszeiten: Mittwoch bis Samstag 12 bis 21 Uhr.

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