piwik no script img

Mehrheit für die Normfamilie

Die zutiefst konservative Gesellschaftspolitik der Union hinkt der Realität hinterher – doch auch die rot-grüne Regierung betreibt nur eine halbherzige Modernisierung

Leider muss dieEmpörung über den Konservatismus der CDU/CSU ohne Trost auskommen

Kleinfamilie, Patchworkfamilie, Homoehe, Singledasein, serielle Monogamie, Sexarbeit: In was für eine Fülle von Möglichkeiten sich die zwischenmenschlichen Beziehungen und ihre sozialen Institutionalisierungen ausdifferenziert haben! Nichts ist vielfältiger und interessanter.

Nur im Bundestagswahlkampf scheint das nicht angekommen zu sein. Man hat durchaus Anlass, sich darüber zu wundern, dass gesellschaftspolitische Fragen in ihm kaum eine Rolle spielen. Die Schwulen- und Lesbenverbände haben angesichts des schwankenden Verhältnisses der CDU/CSU zur Homoehe kurzzeitig einen „Backlash“ befürchtet. Im ersten Kanzlerduell wurden Gerhard Schröder und Edmund Stoiber nach ihrer Beziehung zu ihren Ehefrauen gefragt. Zuletzt wurden dann doch noch unterschiedliche Konzepte bei der Kinderbetreuung deutlich: Familiengeld (CDU) versus Ausbau der Ganztagsbetreuung (SPD). Das war es denn auch.

Angesicht des Hintergrunds Edmund Stoibers ist das erstaunlich. Der Kanzlerkandidat der CDU/CSU gibt sich derzeit weich gespült. Seine zutiefst konservativen Positionen, die er eigentlich vertritt, sind aber nicht vergessen. Leicht findet sich – nur zum Beispiel – im Internet seine vorletzte Neujahrsansprache fürs Bayerische Fernsehen. Stoiber betont darin die Wichtigkeit eines „verbindlichen Wertegerüstes“ für die Gesellschaft: „Gerade im tief greifenden Wandel brauchen wir geistige Orientierung.“ Er bekennt sich zu einer „werteorientierten Gesellschaftspolitik“ und meint, dass in Bayern die „überlieferten Traditionen“ lebendig sein sollen. Die bayerische Spielart des Konservatismus, wirtschaftliche Modernisierung mit Rückwärtsgewandtheit im Sozialen zu verknüpfen, ist in der Ansprache mit Händen greifbar.

Es ist uncool geworden, sich auf den Pol der 68er-Bewegung zu beziehen. Aber festzuhalten bleibt: Wenn irgendwo bei der Bundestagswahl die Umrisse einer Richtungsentscheidung erkennbar sind, dann in der Frage der Gesellschaftspolitik. Der Kanzlerkandidat der CDU/CSU steht für ein Gesellschaftsbild, das mit Aufgeklärtheit und Liberalität wenig zu tun hat. Statt auf Erhöhung individueller Wahlmöglichkeiten setzt er auf ein verbindliches Wertegerüst. Statt die emanzipativen Chancen der Individualisierung auszubauen, will er die Menschen an überlieferte Traditionen zurückbinden. Wo sich die Umrisse einer Fülle an gleichberechtigten zwischenmenschlichen Lebensformen abzeichnen, sieht er nur eine: die Normfamilie.

Schon klar: Auch unter einem Kanzler Stoiber werden nicht alle schönen Errungenschaften an gesellschaftlicher Liberalisierung, die wir inzwischen erreicht haben, wieder zurückgedreht werden; der Kinowerbespot der SPD, der Stoiber mit dem Familienbild der restaurativen Fünfzigerjahre kurzschließt, ist lustig, aber auch allzu plakativ – Frauen, die sich so ergeben in ihre Hausfrauenrolle schicken, wird man kaum mehr finden. Aber es geht hier um Fragen des gesellschaftlichen Selbstverständnisses. Es wird Zeit, zu begreifen, dass die Veränderungen im Sozialen, die die Bundesrepublik seit der Epoche der Nierentische durchlaufen hat, nicht als Verfallsgeschichte, sondern als Erfolgsgeschichte zu verstehen ist.

Auch viele Rot-Grün-Anhänger kriegen diesen sozialpädagogischen Betroffenheitsblick, wenn die Rede auf die erhöhten Scheidungsraten kommt. Dabei könnten sie darauf verweisen, dass die Scheidungsrate in den Fünfzigern nur aufgrund eines gewaltigen repressiven Normdrucks künstlich niedrig war und dass viele der Scheidungen eher für eine erhöhte Wertschätzung der Ehe sprechen: Man hat dann eben nicht so harmoniert, wie man es für dieser Lebensform angemessen hält. Erst seit einer Generation können in der Ehe Individuen ohne Einbindung in vorgegebene Rollenmodelle aufeinander treffen. Man braucht die Entwicklung nicht zu verklären. Aber wo vor kurzem noch Verschmelzungsfantasien alle realen Probleme zukleisterten, haben heutige Ehepartner die Chance, die in einer langjährigen Beziehungen entstehenden Probleme auch tatsächlich auszuagieren und, wenn nichts mehr hilft, die Konsequenzen zu ziehen.

Das alles ist kompliziert und anstrengend genug. Edmund Stoiber aber passt die ganze emanzipative Richtung nicht. Und es komme jetzt bitte niemand mit Katherina Reiche! Ohne Trauschein Kinder zu bekommen mag innerhalb gewisser katholischer Milieus immer noch als Skandal oder emanzipativer Akt gehandelt werden. In Wirklichkeit aber sollte es mittlerweile doch nur noch eins sein: vollkommen normal.

Die inhaltlichen Äußerungen dieses Mitglieds des Stoiber’schen Kompetenzteams fielen auch nicht durch Fortschrittlichkeit auf. „Ich finde emotionalen Halt in der Familie. Dort kann ich eintauchen und Selbstvertrauen tanken“, sagte Frau Reiche neulich in einem Interview. Schön für sie. Aber so unangekränkelt aus dem Geist urdeutscher Innerlichkeit gesprochen, dass man nicht umhinkommt, dahinter intellektuell nicht durchgearbeitete konservative Prägungen zu vermuten. Die Welt der Familie hat heil zu sein! Die Sätze riechen muffig.

Der Kanzlerkandidat steht für ein Gesellschaftsbild, das mit Liberalität wenig zu tun hat

Leider muss die Empörung über den Konservatismus der CDU/CSU ohne den Trost auskommen, dass zumindest ihre politische Gegenseite überzeugend dagegenhält. Wer bei Rot-Grün nachhorcht, was gesellschaftspolitisch in der vergangenen Legislaturperiode auf die Beine gestellt wurde, wird zum einen auf die Homoehe verwiesen – die als Symbol für eine liberale Gesellschaft gelten kann, darüber hinaus für Heterosexuelle allerdings naturgemäß wenig bringt. Zum anderen wird dann immer die Erhöhung des Kindesgeldes erwähnt. Die ist bei Licht besehen allerdings nicht mehr als ein schlechter Witz.

Hier wird nicht nur die Chance vertan, sich gesellschaftspolitisch deutlich von konservativen Denkmodellen abzusetzen. Im Grunde genommen drängt sich längst ein bestimmter Verdacht auf: dass nämlich das Verhältnis der rot-grünen Bundesregierung zur Ausdifferenzierung im Sozialen halbherzig ist. Mit sozialpolitischen Maßnahmen und einer zur Schau gestellten Liberalität im Symbolischen versucht man, die Ruhe an der Frauen- und Kinderfront aufrechtzuerhalten. Supertolerant ist man darüber hinaus sowieso. Aber lieber kokettiert man mit den Neokonservatismen der neuen Mitte, als die Gesellschaftspolitik tatsächlich als das Kernstück seines Tuns zu begreifen.

Dafür aber wird es jetzt wirklich Zeit. Es geht schlicht darum, dass der Staat seiner Aufgabe gerecht wird und die Infrastruktur schafft, die individuelle Wahlmöglichkeiten konkret eröffnet. Der liberale Stand, der im Bewusstsein vieler Menschen längst erreicht ist, darf bei seiner Umsetzung im Alltag nicht auf so viele Hindernisse wie fehlende Hortplätze oder weiterhin vorhandenen Sozialdruck treffen wie bisher. Immerhin weist nun die Ankündigung, die Priorität auf den Ausbau von Kitaplätzen zu legen, in die richtige Richtung. DIRK KNIPPHALS

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen