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Vermächtnis eines Unbekannten

Am 6. Oktober wäre Bruno Balz 100 Jahre alt geworden. Niemand kennt seinen Namen, aber alle kennen seine Lieder. Die Tragik seines Lebens kommt erst ans Licht, seit Jürgen Draeger die Archive öffnet

von WALTRAUD SCHWAB

„Niemand kennt mich. Zehn Jahre nach meinem Tod werden auch meine Lieder vergessen sein“, sagte Bruno Balz. So zumindest erzählt es Jürgen Draeger, sein Universalerbe. Als sich die beiden zum ersten Mal treffen, ist Draeger 19, Balz 57 Jahre alt. „Nennen Sie uns ‚Lebensgefährten‘.“ Draeger mag das Wort. „Es spricht von so vielem: Von Vertrauen, Loyalität, von gemeinsamen Wegen, von Geistesverwandtschaft, Liebe.“ Nicht von Sex. „Es sind die anderen, die das so sehen wollen“, sagt er. „Kann denn Liebe Sünde sein?“ Zarah Leanders Stimme kommt aus dem Lautsprecher im Hintergrund.

Balz, der Liedermacher, verfügt in seinem Testament, dass die ersten zehn Jahre nach seinem Tod nicht über ihn gesprochen werden darf. Tatsächlich ist eingetreten, was er wollte: „Balz, wer soll das sein?“ Ein Unbekannter ist er. Ist er immer gewesen. Nur seine Lieder – da hat er sich getäuscht – die kennt auch heute fast jeder. „Der Wind hat mir ein Lied erzählt.“ Morgen wäre Bruno Balz 100 Jahre alt geworden.

Seit zwei Jahren arbeitet sich Draeger, der Jüngere, der Freund, durch den Nachlass. Jetzt, wo alles offen ist, wird es ihm gelingen, dem Unbekannten seine Geschichte zurückzugeben. Sie ist voller Abgründe: Verrat, Erpressung, Demütigung, Folter, Leidenschaft, unerfülltes Begehren. Über allem aber liegen seine Lieder mit ihrem Zauber, ihrer Sehnsucht. Balz, Sohn eines Sattlers aus Prenzlauer Berg, wollte schon früh „Textdichter“ werden. Den Beruf hat er erfunden. „Songwriter“ hieße es heute.

In Balz’ Repertoire gibt es Lieder, deren Botschaften unschuldig sind bis auf die letzte Silbe. Und trotzdem waren sie nach dem Krieg nur noch selten zu hören. In der Erinnerung der Alten lebten sie dennoch fort. „Davon geht die Welt nicht unter!“, meinten sie, wenn sie jemandem Mut machen wollten. Schnittig wurde das „u“ in „unter“ betont. Gern sagten sie auch: „Es wird einmal ein Wunder geschehen.“ Am „einmal“ verrieten sie sich. Die Kriegsgeneration zitierte die alten Durchhalteschlager. Nazi-Propaganda. Sie wollten sie singen und trauten sich nicht. Ungesungen wurden die Lieder weitergegeben an die, die später geboren sind. Balz ist der Autor dieser Gassenhauer, dieser Mutmacher, dieser Sehnsuchtsdrogen. Unter welchen Bedingungen er sie geschrieben hat? Darüber schwieg er. Darüber schwiegen Zarah Leander, Heinz Rühmann, Johannes Heesters, Marika Rökk und all die anderen, die sie sangen und es hätten wissen können. „Man wird die Texte neu hören müssen, wenn die Geschichte dazu bekannt ist“, sagt Draeger.

Im Schweigen erkannten sich die beiden Männer wieder. So sehr, dass sie im jeweils anderen ihr Alter Ego fanden. Draeger hat als Jugendlicher nach einem Streit mit seinem Stiefvater drei Jahre lang nicht gesprochen. Der Name „Balz“ wiederum wurde von den Nazis ausgelöscht. Er durfte weiterschreiben, aber als Autor seiner Lieder nicht mehr genannt werden, denn Balz war schwul. Bis heute wurde in kaum einem Film nachträglich der Name des Liederschreibers eingefügt. Darunter so bekannte Kinohits wie „Paradies der Junggesellen“, in dem Heinz Rühmann mit „Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern“ Furore machte. „Technisch kein Problem, den Namen nachzutragen“, meint Draeger. Er weiß es, er war selbst Schauspieler. Im Fernsehen, im Film. Bei Fassbinder spielte er in „Lili Marleen“, „Die dritte Generation“ und „Berlin Alexanderplatz“.

Anfang der 60er-Jahre lernen sich die beiden Männer kennen. Balz kauft auf der Freien Berliner Kunstausstellung ein Bild des 19-jährigen Draeger. Eine Nachkriegshäuserfront aus Friedenau voll poetischer Tristesse. „Balz muss es an seinen Prenzlauer Berg erinnert haben“, sagt Draeger. „Es war keine Kaufkunstzeit damals“, der Textdichter aber hatte Geld. Er schrieb wieder. Titelsongs für Nachkriegsfilme und Schlager. Im Jahr der ersten Begegnung der beiden Männer verfasst er: „Wir wollen niemals auseinandergehen“. Balz hat das Lied für Zarah Leander geschrieben. Sein Komponist Michael Jary aber gibt es heimlich weiter an Heidi Brühl. Es wird ein Hit. Das Trio Balz–Jary–Leander, das mehr als zwanzig Jahre gehalten hatte, zerbricht daran. Im gleichen Jahr beginnt die Freundschaft Balz–Draeger.

390 Mark soll das Bild kosten. Das sind drei Monatseinkommen für Draeger, seine Mutter und Schwester. Balz will dem jungen Maler das Geld persönlich überreichen. Er lädt ihn zum Mittagessen ein. Draeger kommt zu spät. Der kleine, unscheinbare Balz öffnet die Tür, sagt, sie seien schon beim Dessert, öffnet die Tür zum Salon und stellt die Anwesenden vor: Zarah Leander, Heinz Rühmann, Grethe Weiser, Ilse Werner, Frau Balz. „Für mich eine Gesellschaft direkt aus einer George-Grosz-Karikatur“, sagt Draeger. Zarah Leander bittet ihn zu sich heran und steckt ihm eine Gabel voll Kuchen in den Mund. Draeger bekommt Panik, rennt zur Toilette, spuckt den Kuchen aus und verlässt die Wohnung in der Fasanenstraße.

Balz arrangiert die folgenden Begegnungen. Er gibt nicht auf. So kommen sie sich näher. Eine große Freundschaft beginnt. Als lebenslange Gefährten treffen sie sich, tauschen sich aus, laden sich gegenseitig ein, verreisen zusammen. Draeger, der Einzelgänger, macht seine eigenwillige Karriere. Mal als Schauspieler, mal als Fotograf, am liebsten als bildender Künstler. Nach den Häuserfassaden malt er Fenster. Danach Menschen hinter Vorhängen am Fenster, bis auch die Vorhänge nicht mehr nötig sind. Seine Stärke: Gesichter. Physiognomien. Als Fassbinder seinen Film „Querelle“ dreht, zeichnet er während der Aufnahmen seine Aufsehen erregenden Bilder der Schauspieler. Balz, ohne seinen Komponisten Jary nicht mehr so erfolgreich, schreibt 1973 sein letztes Lied. „Adieu“ für Zarah Leander.

Balz spricht nicht über das, was er unter den Nazis erlebt hat. Eher schon erfährt Draeger Fragmente der vergangenen Tragödie von Selma, der Frau von Balz. Eine Bäuerin mit Perlenkolliers, in Nerzmäntel gehüllt und einsam. Alkohol, Tabletten. Am Ende geistig verwirrt. Manchmal ist Draeger mit ihr spazieren gegangen. Aus Mitleid. „Ich dachte, sie war doch bestimmt einmal eine nette Person.“ Dass sie in Balz’ Leben auftauchte, ist den Abgründen der deutschen Geschichte geschuldet.

Balz war homosexuell. Mit 17 ließ er Nacktfotos von sich machen. Freiheit, Unabhängigkeit und Zwanziger-Jahre-Aufbruch, Balz wollte das. Er hatte Kontakt zu dem jüdischen Sexualforscher Magnus Hirschfeld und war Mitglied im „Bund für Menschenrecht“. Gleichzeitig war sein Aufstieg zum beliebtesten Liedschreiber unaufhaltsam. Für den ersten deutschen Tonfilm „Dich hab’ ich geliebt“ schrieb er 1929 den Titelsong. Mehr als 1.000 Lieder wird er am Ende seines Lebens verfasst haben.

Mit populären Künstlern hatten die Nazis nach der Machtergreifung ein Problem. Unterhaltungskunst wurde gebraucht, und Balz produzierte leichte Muse mit einer Prise Melancholie, ohne trivial zu sein. Beim „Schwulenklatschen“ der Nazis wurde er 1936 trotzdem zum ersten Mal verhaftet. Nach acht Monaten im Gefängnis Plötzensee kam er unter Auflagen frei. Eine davon: Sein Name wird aus allen Veröffentlichungen gestrichen. Fotos von ihm werden nicht mehr publiziert. Die andere Bedingung: „Einwilligung in eine Heirat“ – so jedenfalls erklärt es Draeger. Die Nazis fanden für ihn die pommersche Bäuerin Selma. Blond. Blauäugig. Für sie sei des Führers Wort Befehl gewesen. „Vom Gefängnis aus musste Balz direkt zum Traualtar“, das gehe aus den Dokumenten hervor, sagt Draeger. Selma sei eine Marionette der Nazis geworden. Modell: Jetset. Luxus habe sie angezogen. Dass sie Balz ausspioniert hat, habe sich von selbst ergeben. Zu viele unberechenbare Künstler hätten im Hause verkehrt.

Der zweiten Verhaftung Balz 1941 durch die SS ging ein inszeniertes Inflagranti mit einem jungen „Verehrer“ voraus. Balz wurde ins Prinz-Albrecht-Palais, das Gestapo-Hauptquartier, gebracht. Ist er gefoltert worden? „Ja“, sagt Draeger. Die Verhaftung war kurz vor Drehbeginn des Filmes „Die große Liebe“ mit Zarah Leander. Die Ufa und Michael Jary, sein Komponist, intervenieren. Sie brauchen Lieder für den Film, der am Ende von mehr als 28 Millionen Menschen in Europa gesehen wird. Balz wird freigelassen mit der Bedingung, innerhalb von 24 Stunden die Filmsongs zu schreiben. In jener Nacht entstand: „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen“ und „Davon geht die Welt nicht unter“. Hoffnungen, die ihn im Gefängnis am Leben gehalten hätten, sagt Draeger.

Es sind jene Lieder, die Balz nach dem Krieg erneut vor Gericht brachten. Propaganda für die Nazis lautete der Vorwurf. Ende 1946 wurde er von der amerikanischen Alliiertenbehörde freigesprochen. Selma aber wurde er nicht los. In die Scheidung willigte sie nicht ein, das hätte Statusverlust für sie bedeutet. Weil der Schwulenparagraph 175 der Nazis nach dem Krieg ohne Abstriche übernommen wurde, hatte sie einen erpresserischen Trumpf in der Hand. Balz ließ in den 60er-Jahren ein Haus für sich bauen und „verbannte“ sie dort in eine eigene Wohnung.

„Am Ende seines Lebens entschwindet sein Körper. 85 Jahre ist er“, erzählt Draeger. „Ich wusch ihn. Ich brachte ihn zur Toilette. Personal war natürlich auch da.“ Balz wird künstlich ernährt. In seiner letzten Stunde bittet er seinen Freund, ihm den Schlauch aus dem Mund zu nehmen. Draeger macht es und gibt ihm einen Löffel Suppe. Sie läuft das Kinn herunter. „Das hast du dir nicht vorstellen können, dass du mich mal fütterst. Nicht wahr, Jürgen?“, sagt Balz. Dann fällt sein Kopf zur Seite. „Ich hab nicht geweint“, sagt Draeger. „Er war ja noch da.“

Draeger lebt im Haus von Balz. Das Vermächtnis des Unbekannten hat er angenommen. Er wird seine Biografie schreiben. In seinem Arbeitszimmer steht der Tisch, an dem damals, 1960, die skurrile Gesellschaft saß.

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