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Nicht alles ist anders, aber vieles schlimmer

Karl Grobe-Hagel setzt den aufgeblasenen Leitartikeln zum 11. September eine präzise und glänzend geschriebene Analyse entgegen

Nach den zahlreichen Artikeln zum Jahrestag des 11. September mögen wahrscheinlich viele darüber nichts mehr lesen. Zu oft wurden die stumpfsinnigen Formeln, wonach nun „alles ganz anders“ und „nichts mehr wie bisher“ sei, wiederholt. Das trifft auf jeden Schluck aus einem Glas Wein zu: „Alles“ – Glas und Genießer – ist am Ende „ganz anders“. Wer das alberne Aufblasen von Trivialem zur leitartikelnden Spekulation satt hat, sollte das informative, präzise und glänzend geschriebene Buch von Karl Grobe-Hagel lesen.

Der Chef des außenpolitischen Ressorts der Frankfurter Rundschau lässt sich nicht verführen vom Blick auf „die grelle Tat“ und auf schockierende Ereignisse, sondern leuchtet die Hintergründe und Motive aus, kurz „die Kompliziertheiten“, die nur selten in der zweipoligen Logik von Gut und Böse, Richtig und Falsch, Schwarz und Weiß aufgehen. Wer das mühsame Geschäft der Analyse und der historisch-politischen Kontextualisierung von Verbrechen und Reaktionen betreibt, setzt sich schnell dem Verdacht aus, Verbrechen zu verharmlosen und Reaktionen zu legitimieren. Dieser Gefahr erliegt der Autor nicht: „Der Versuch, Terroranschläge als Widerstandshandlungen zu bewerten und dieser Bewertung einen islamischen Inhalt zu unterlegen, ist Rechtfertigungsideologie.“

Grobe-Hagel stellt zunächst dar, was man über den Hergang der Terroranschläge weiß. Im Gegensatz zu anderen Schilderungen wird dadurch deutlich, wie wenig präzises und gesichertes Wissen vorliegt. Das meiste, was man weiß, stammt aus der Aktentasche des mutmaßlichen Haupttäters Atta. Aber schon die Frage, warum die umsichtig und professionell vorgehenden Täter ausgerechnet dieses Beweisstück vergaßen, ist nicht beantwortbar. Weiter holt der Autor aus, um zeigen, wie der islamische Fundamentalismus entstanden ist und wie er die ursprünglich missionarisch und nicht militärisch geprägte Vorstellung vom „heiligen Krieg“ ideologisch manipuliert hat. Welche verheerende – die fundamentalistische Ideologie bestätigende – Wirkung die Rede vom „Kreuzzug“ (George W. Bush) gehabt hat, liegt auf der Hand.

Im Zentrum des Buches steht die historische Entwicklung Afghanistans vom Pufferstaat zwischen dem englischen und dem russischen Imperialismus bis zum Objekt der Begierde von westlichen Ölgesellschaften. Diese möchten das schwarze Gold aus dem zentralasiatischen Turkmenistan durch Afghanistan hindurch ans Arabische Meer transportieren. Das Taliban-Regime, das 1996 dank saudiarabischer, amerikanischer und pakistanischer Hilfe an die Macht kam, favorisierte für das gigantische Ölgeschäft die Union Oil Co. of California. Zu deren Beratern gehörte neben dem „Weltpolitiker“ Henry Kissinger auch der heutige afghanische Ministerpräsident Hamid Karsai.

Die knappe Skizze des Taliban-Regimes durch Grobe-Hagel bringt neue Einblicke. So liegen die Wurzeln für die Brutalität des Regimes im Allgemeinen und dessen Frauenfeindlichkeit im Besonderen weder im Koran noch im Islam überhaupt. Die Herrschaft der aus pakistanischen Flüchtlingslagern stammenden, ungebildeten Taliban stützte sich stärker auf das alte paschtunische Gewohnheitsrecht („Paschtunwali“) als auf den Koran. Usbeken, Hasara, Turkmenen, Tadschiken und andere Bevölkerungsgruppen in Afghanistan war das archaische Recht völlig fremd und konnte – trotz rigider Gewaltanwendung – nur teilweise durchgesetzt werden. Ökonomisch beruhte die Herrschaft der Taliban bis zum Juli 2000 vollständig auf dem Mohnanbau, dem Rohstoff für Opium und Heroin.

Ussama Bin Laden, den der CIA-Chef George Tenet unmittelbar nach den Anschlägen als Täter identifizierte, gründete al-Qaida („die Basis“) 1986 und unterhielt in Afghanistan Ausbildungslager und Anlaufstellen für Personen, die sich am Kampf der Mudschaheddin gegen die sowjetische Besetzung anschließen wollten. Über deren Zahl weiß man nichts Genaues, aber mehr als 15.000 Kämpfer dürften die Lager bis zum Jahr 2001 nicht durchlaufen haben. Für die Zahl von „100.000 Terroristen“, von der Präsident Bush sprach, gibt es keinerlei Belege. Die Organisations- und Kommandostruktur von al-Qaida ist weitgehend unbekannt. Man weiß nicht einmal sicher, ob die Attentäter vom 11. September Mitglieder waren.

Zu den besonders lesenswerten Partien des Buches gehören die beiden Kapitel, in denen Grobe-Hagel die Reaktionen der USA nach außen und nach innen darstellt. Bereits vor den Anschlägen wurde erwogen, die amerikanische Nuklearstrategie umzustellen. Atomwaffen gelten seither als „einsetzbare Waffen“. Am 29. 1. 2002 erklärte Bush der „Achse des Bösen“ indirekt den Krieg. Die neue Strategie demontiert das Völkerrecht zur Quantité négligeable und ermächtigt die USA im Namen von „Selbstverteidigung“ unverhohlen zu präventiven Angriffskriegen. Zwar wurden zunächst nur der Irak, der Iran und Nordkorea offen als Ziele genannt, aber virtuell dürfen sich alle Staaten als Feinde der USA betrachten, sobald sie sich der „Tendenz zur militärisch abgestützten Weltherrschaft“ (Grobe-Hagel) widersetzen. Nach innen bereitete die Bush-Administration das Fundament für einen Staat, in dem Bürgerrechte und Rechtsstaatlichkeit das Nachsehen haben angesichts von tatsächlichen und vorgeschobenen Sicherheitsinteressen: Symbol dafür ist der USA PATRIOT Act. Die Abkürzung steht für: Uniting and Strengthening America by Providing Appropriate Tools Required to Intercept and Obstruct Terrorism. Grobe-Hagels Buch zeigt, dass in dieser Hinsicht noch einiges zu erwarten ist. RUDOLF WALTHER

Karl Grobe-Hagel: „Krieg gegen Terror? Al Qaeda, Afghanistan und der ‚Kreuzzug‘ der USA“, 168 Seiten, Neuer ISP Verlag, Karlsruhe 2002, 14 €

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