: Spielplatz für Erwachsene
Las Vegas, die Vergnügungsoase in der Wüste Nevadas, erfindet sich immer wieder neu. Die Stadt der Zocker und Mafiosi wird immer mehr zur familienfreundlichen Freizeit- und Entertainment-Destination. Drei Tage auf dem Strip der Illusionen
von GÜNTER ERMLICH
Vor zehn Jahren machte Sheldon Adelson mit seiner Frau Miriam Honeymoon in Venedig. Brücken und Paläste, Gondeln und Tauben gefielen Miriam so gut, dass sie ihrem Gatten später ins Ohr flötete: „Liebling, kannst du das nicht in Las Vegas bauen?“ „No problem“, säuselte Sheldon zurück, besaß er doch das nötige Kleingeld, um seiner Miriam jeden Wunsch dieser Welt zu erfüllen. Adelson, der Sohn eines Taxifahrers, hatte mit der Computermesse Comdex eine Menge Dollar gemacht. Laut Forbes ist er heute einer der 400 reichsten Amerikaner. Und Adelson hielt Wort. In der Wüste von Nevada wurde vor drei Jahren The Venetian wahr.
Das 1,5 Milliarden Dollar teure Klein-Venedig prunkt am Strip, dem zehn Kilometer langen Vergnügungsboulevard von Las Vegas. Ein dreiflügeliges Megahotel mit 3.000 Zimmern, ach was!, Suiten, alle fürstliche 70 Quadratmeter groß, und einem Ensemble von „authentischen“ Repliken lagunenstädtischer Sehenswürdigkeiten. Da staunt der Amerikaner – und der Europäer wundert sich: Vorbei am schlaksigen Campanile wird er auf Laufbändern über die Rialtobrücke zum Dogenpalast befördert. Hinter dessen Fassade lockt das obligate Kasino mit 2.175 Spielautomaten, in dem kurzberockte Bunnys die Spieler mit Drinks freihalten.
Wem das pausenlose Gedudel und Gedaddel der Automaten den Nerv tötet, der nimmt einfach mit der Rolltreppe Reißaus in den ersten Stock, wo der Canale Grande 300 Meter lang fließt. Dort schmettert ein uniformierter Gondoliere (Strohhut mit rotem Band, Matrosenhemd, schwarze Hose) „Funiculi, Funicula“ und stakst so unbeholfen, dass er seine Kollegin Gondoliera – „O sole mio“ – mit ihrer Besatzung Vater, Mutter, Tochter, Sohn fast zum Kentern bringt.
„Die Gondolieri müssen singen können, das Gondelfahren bringen wir ihnen dann später schon bei“, erklärt Hotelmanager Peter Waterspiel. Klar doch, den Markusplatz gibt es natürlich auch im ersten Stock. Blitzsaubere, pastellfarbene Palazzi mit Balkonen und Rundbögen umrahmen ihn. Der Designerhimmel, in Hellblau gepinselt und mit ein paar weißen Wölkchen versetzt, hängt fünfzehn Meter über dem Pflaster. Auf etwa fünf Uhr nachmittags fixiert das Kunstlicht die Tageszeit.
Vor den Restaurants stehen Tische und Stühle. Der Kellner macht die Illusion perfekt: „Wollen Sie drinnen oder draußen Platz nehmen?“ Linda und George entscheiden sich für draußen. „It’s fantastic, it’s gorgeous“, kreischt die wohlbeleibte Linda, und ihr Ehemann Dan schwärmt, dass „das richtige Venedig auch nicht schöner sein kann“. Nur die Tauben fehlen. Venedig ohne Tauben? Auch sie waren vorgesehen. Für ihren Auftritt hatten sie im Trainingslager geprobt, wollten aber partout nicht stubenrein werden.
The Venetian ist die vorletzte Kreation eines Themenhotels in der Wüstenstadt. 1989 markierte das Jahr der Wende, die Geburtsstunde von New Las Vegas. Der Schöpfer des neuen Zeitalters heißt Steve Wynn, der im Hollywood-Film „Ocean’s Eleven“ in der Figur des Kasinokönigs Terry Benedict sein Wesen treibt. Wynn, Mr. Las Vegas, wollte die Stadt der Zocker und Mafiosi in eine familienfreundliche Freizeit- und Entertainment-Destination verwandeln. Seit Ende der Siebzigerjahre hatte Las Vegas das Quasimonopol zum Betrieb von Kasinos verloren und versuchte, sein Image von Sin City, diesem Sündenbabel aus schäbigen Spielhöllen und billigen Absteigen, abzustreifen.
Die Operation ist gelungen. Inzwischen lockt die frühere Kulturwüste sogar mit Hochkultur. In The Venetian residieren Filialen des New Yorker Guggenheim-Museums und der St. Petersburger Eremitage, und in Wynns Kunstgalerie hängen Meisterwerke von Monet, van Gogh und Picasso.
Mit dem Mirage Hotel baute Wynn eine Art Prototyp der Generation kunstvoll-künstlicher Freizeitwelten: Ein Megaensemble aus Spielkasino, noblen Restaurants mit Sterneköchen, Markengeschäften in schicken Shopping-Malls, Achterbahn und Wellnessoase, Shows für die ganze Familie und einer Heiratskapelle für die schnelle Vermählung zwischendurch.
Im Mirage werden die Tropen thematisiert: Der Gast wandelt zwischen Wasserfällen im Indoor-Regenwald, beim Check-in schaut er ins fischreiche Aquarium hinter der Rezeption. Zur Showtime verzaubern die unsterblichen Germanen Siegfried & Roy weiße Tiger und 2.500 Zuschauer. Draußen vor dem Hotel wiederholt sich jede Viertelstunde das gleiche Spektakel: Der Vulkan lebt! Schwarzer Rauch steigt auf, rote Flammen züngeln empor, es grollt gar sehr.
Im letzten Jahrzehnt sind entlang des Strips eine ganze Reihe Themenhotels entstanden. Planer und Projektentwickler gehen stets nach dem gleichen Baukastenprinzip vor: Man nehme ein weltbekanntes Thema (zum Beispiel Paris), produziere Erlebnisarchitektur durch Reproduktion der Ikonen (Eiffelturm, Arc de Triomphe, Oper), visualisiere das Thema bis ins Detail (Spieltische heißen nach Pariser Metrostationen) und bringe Croupiers und Kellnern ein paar Fremdsprachenbrocken bei – fertig ist das „Paris Las Vegas“.
Der Planet Las Vegas industrialisiert die Sehnsucht. Wenn man über den Strip flaniert, verkürzt sich die Welt auf ein paar Kilometer Kunstwelt mit Zitaten aus Geografie, Geschichte und Mythologie. Das Hotel Luxor, eine gläserne Pyramide mit Sphinx und Obelisk, thematisiert das pharaonische Ägypten, das Mandalay Bay macht, obwohl sein Name streng genommen Birma nahe legt, auf Südsee mit Sand, Minimeer und Surfwellen. Das New York New York kopiert die auf ein Drittel reduzierte Himmelslinie Manhattans (zum Glück ohne das World Trade Center!); drinnen liegen das Kasino im Central Park und die Fressbuden in den Straßen von Greenwich Village. Schräg gegenüber betört das Aladdin (Achtung: Sie betreten Nordafrika und/oder den Nahen Osten, garantiert frei von Unrat und Kriminalität, Bettlern und Fundamentalisten!) mit orientalischen Bauten und Märchenmotiven aus Tausendundeiner Nacht.
Die neuen Hotels lebten davon, analysierte die Zeitschrift New Yorker, „dass die Bereitschaft, den Geldbeutel zu öffnen, direkt proportional zur Summe der gebotenen Fantasien ist“. Im Kampf um Kunden drehen die Hotelkonzerne deshalb immer schneller an der Erlebnisspirale, inszenieren die Spektakel durch Special Effects immer aufwändiger. Nur nichts verpassen, alles mitnehmen, sagt sich der Las-Vegas-Besucher, der durchschnittlich 3,7 Tage in der Wüstenstadt weilt. Getrieben hetzt er nach Sonnenuntergang von einer kostenlosen Fassadenshow zur nächsten. Vom Vulkanausbruch des Mirage zum Blitz-Donner-Regen-Erguss im Aladdin, dann weiter zum Treasure Island, wo Piraten und englische Marineoffiziere an der Buccaneer Bay zur pyrotechnischen Seeschlacht bitten.
Wer jetzt noch keinen Erlebnisorgasmus hat, der bekommt ihn garantiert am Bellagio. Noch ruht der fünf Hektar große künstliche See vor dem imposanten 36-stöckigen Großhotel. Gedrängt lehnen die Strip-Flaneure über der steinernen Boulevardbrüstung. Der Lautsprecher knarzt. Als Gene Kelly „I’m Singin’ in the Rain“ anstimmt, beginnt das Wasserballett in strahlendem Flutlicht. Dutzende Fontänen tanzen in einer Reihe wie Showgirls, neigen ihren Strahl nach links, swingen nach rechts und schießen dann wieder turmhoch nach oben. What a glorious feeling!
„Welcome to Fabulous Las Vegas“ sagt eine Leuchtschrift. Und alle folgen der Einladung: Touristen aus nah und fern suchen ihr Glück im Spiel, Rentner aus kälteren US-Regionen ein Häuschen im Warmen für den Lebensabend und Legionen von Mexikanern Arbeit als Verteiler von Sexanzeigenpostillen auf dem Strip oder als Köche im Hotel. Ein beliebter Witz geht so: Welches ist die schnellste Show in Las Vegas? Wenn man in die Küche des Stardust Hotels „Migra, Migra!“ (Einwanderungsbehörde) ruft, rennen hundert Köche im Schweinsgalopp durch die Hintertür.
Groß, größer, Las Vegas: Seit Anfang der Neunzigerjahre hat sich die Einwohnerzahl auf 1,4 Millionen verdreifacht. Im Jahr 2000 zog die Stadt knapp 36 Millionen Besucher an – doppelt so viele wie Paris. Alle zusammen ließen 31 Milliarden Dollar in der Stadt, und jeder einzelne Gast verlor im Schnitt 665 Dollar am Spieltisch. 120.000 Hotelzimmer (Auslastung 92 Prozent!) – mehr als jede andere Stadt der Welt. Das weltgrößte Hotel, das MGM Grand, hat satte 5.005 Zimmer.
Las Vegas muss sich ständig neu erfinden, Stillstand wäre der Tod. Der Zwang zur Innovation, zum Superlativ, zum Größenwahn regiert. Deshalb werden altmodische, unrentable Hotelkästen kurzerhand pulverisiert– besonders gern zu Silvester –, damit sie profitableren Luxuspalästen Platz machen. Für die Touristen vor Ort und die Zuschauer am Fernseher ein Riesenspektakel. Denn selbst eine schnöde Sprengung vermarkten die Vergnügungsprofis als Mega-Show-Act. „Las Vegas ist ein unglaublich trauriger Ort, der fest entschlossen ist, uns glücklich zu machen“, sagt der Medienhistoriker Norman Klein.
Sechs Uhr morgens. Im Kasino des Luxor-Hotels füttert ein lonely gambler den einarmigen Banditen mit 25-Cent-Münzen aus dem Styroporbecher. Der grauhaarige Mann ist müde. Aber er sitzt in der Falle. Alle Kasinos sind Fallen, nach Regeln der Verführungskunst geschaffene Labyrinthe, ohne sichtbare Ausgänge, ohne Tageslicht, ohne Uhren, aber von hunderten versteckter Kameras, eyes in the sky, bewacht.
Inzwischen macht das Glücksspiel nur noch knapp die Hälfte der Einnahmen in Las Vegas aus. „Vom Hotelgast bleiben uns 75 Prozent“, sagt Hotelmanager Waterspiel von The Venetian, „beim Kasinogast ist es Glückssache.“ Dennoch hält natürlich auch die Venedig-Kopie mit Luxussuiten, Gourmetspeisen, Chauffeur und sonstigen kleinen Extras ihre high roller frei. Das sind die Edelzocker, „die das Potenzial haben, hier viel Geld zu verlieren“, erklärt Waterspiel. Wie viel Geld? Hunderte von tausenden von Dollar müssten es schon sein, präzisiert er.
Nach drei Tagen im Disneyland für Erwachsene streiken die Sinne. Und abends fragt man sich, ob der Mond über dem Strip auch wirklich echt ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen