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Das Gewächshausprojekt für Mauerblümchen

Leer stehende Geschäfte sind Zeichen des Niedergangs im Quartier. Geförderte Ladenprojekte sollen die Lage von Kiezen und Kulturschaffenden verbessern. Ein Rundgang am Boxhagener Platz

Boxion soll die Nachbarschaft stärken und vermitteln: „Hier passiert was“

von TILMAN GÜNTHER

Der Blumenladen wird von einem Fotografen geführt. Seit sieben Monaten verkauft Wolf Klein in der Jungstraße Blumen, die an den weiß gekalkten Wänden hängen. Keine frischen Schnittblumen aus Holland, sondern Nelken und Blumenkohl auf Fotopapier. „Ich freue mich, wenn hier ein Paar hereinkommt und für die Schwiegermutter einen Strauß zusammenstellt“, erzählt der Fotodesigner. Er verkauft verdoppelte Realität, „Dingweltbilder“, und hofft, dass sein Laden in Friedrichshain aufblüht.

Kleins Blumenladen ist Teil des Boxion-Projekts, eines von zwei Projekten in Friedrichshain-Kreuzberg, die gegen den um sich greifenden Ladenleerstand angetreten sind. Ärmliche Wohnquartiere sollen mit Kunst und Kultur wiederbelebt werden, aus leeren Ladenräumen entstehen Ateliers, Ausstellungsräume, Werkstätten und Büros. Die Kunst blüht ohnehin in den verlassenen Nischen der Stadt, hier sind die Projekte jedoch erwünscht und öffentlich gefördert. Die Mauerblümchen kommen ins Gewächshaus.

Im Wrangelkiez organisierte das Stadtkunstprojekt Urban Dialogues bis zum September die Kunstkette, bei der Künstler die Läden als Ateliers und Ausstellungsflächen in Beschlag nahmen. Bedingung für die temporäre Nutzung war, dass sich die Arbeit der Künstler mit dem Kiez auseinander setzten sollte. Anwohner wurden zum Fotoshooting aufs rote Sofa gesetzt, eine Glas-und-Keramik-Installation im Ladenraum mit gespendeten Alltagsgegenständen aus der Nachbarschaft bestückt. Der nachhaltige Erfolg des Projekts lässt sich nur schwer einschätzen. Es sei zu einer Mobilisierung im Wrangelkiez gekommen, erkennbar an den neuen Coffee- und Cocktailbars. „Ob das mit unserer Arbeit oder mit anderen Faktoren wie dem Zuzug von Universal zusammenhängt, wissen wir nicht“, erklärt Stefan Horn von Urban Dialogues.

Ähnliche Fälle von vorübergehender Ladennutzung durch Kunstprojekte gibt es auch an anderen Stellen, etwa die „Zentrale Moabit“ oder die „Kolonie Wedding“. Das Friedrichshainer Boxion-Projekt unterscheidet sich dagegen vom temporären Kunstschaffen. „Wir sind auf Langfristigkeit angelegt“, erklärt Carmen Reiz von der Agentur Spielfeld. Sie hat das Projekt zusammen mit dem Quartiersmanagement Boxhagener Platz vor zwei Jahren entwickelt. Auch hier werden leere Läden für Nachwuchskreative zur Verfügung gestellt. „Voraussetzung ist, dass sich die Leute um eine Existenzgründung bemühen und langfristig planen“, erklärt Reiz. Sie bezeichnet es als eine „kulturelle Industrie“ an der Schnittstelle von Kunst und Kommerz. Im subventionierten Ladenraum sollen wirtschaftliche Existenzen entstehen, die weniger risikobehaftet sind als in der freien Wildbahn.

Brigitte Speich und Markus Wohlhüter von „Substrat“ in der Krossener Straße waren schon im Geschäft, bevor sie ihre gleichnamige Agentur Substrat eröffneten. Ursprünglich hatten die Grafikdesigner aus der Schweiz den Berliner aus der Taufe gehoben. Nachdem das Magazin eingestellt wurde, arbeiteten sie als Freelancer in der eigenen Wohnung. „Wir können heute von unserer Arbeit leben, die Miete zahlen und sind schuldenfrei – und das in diesen Zeiten“, erklärt Speich. Substrat ist einer von elf Boxion-Läden. Bis Ende Oktober werden fünf neue Projekte für 2003 gesucht. Dabei sollen klare Kriterien festgelegt werden, ein Gremium aus Wirtschaft und Kultur wird über die Bewerbungen entscheiden. Gesucht werden kleine Gruppen, die im kulturellen Bereich arbeiten und eine klare inhaltliche wie wirtschaftliche Linie verfolgen. Die Läden sollen zumindest teilweise der Öffentlichkeit geöffnet werden. Boxion soll auch den Zusammenhalt in der Nachbarschaft stärken und vermitteln: „Hier passiert was.“ Die Akzeptanz der neuen Mieter bei den Eingesessenen wächst langsam. „Die Leute finden die Läden interessant, trauen sich aber oft nicht rein“, meint Carmen Reiz. Das Verhältnis würde sich durch den neuen Schwerpunkt Broterwerb jedoch bessern: „Arbeit schafft Akzeptanz.“

Schon nach einem Jahr kann Boxion erste Erfolge aufweisen. Die „Aktgalerie“ wurde von einem Verein von Fotografen eröffnet. Inzwischen könnte sie aus Mitgliedsbeiträgen und dem Verkauf von Bildern und Büchern finanziert werden. Die Galerie „Haarkunst“ existiert heute unabhängig als Atelier und Ausstellungsraum. „Wir wollen von der Malerei leben“, erklärt Jan Petersen, der seine Druckgrafiken auf dem Flohmarkt am Boxhagener Platz verkauft. „Ohne Boxion hätten wir so nicht starten können.“

Mit der alternativen Nutzung von leer stehenden Ladenräumen sollen mehrere Ziele erreicht werden. „Die lokale Wirtschaft soll stabilisiert, Arbeitsplätze sollen geschaffen werden“, erklärt Franz Schulz, Baustadtrat von Friedrichshain-Kreuzberg, „außerdem sollen die Quartiere lebenswerter werden.“ Die Fördergebiete sind gezeichnet von hoher Arbeitslosigkeit, es gibt viele Sozialhilfeempfänger und eine hohe Fluktuation. Das Ausbluten der Innenstadtgebiete soll das Quartiersmanagement verhindern, das mit Bundesmitteln aus dem Programm „Soziale Stadt“ finanziert wird und u. a. die Ladenmieten subventioniert.

Das lokale Gewerbe hat es schwer, an vielen Stellen sind große Einkaufszentren entstanden, die Kaufkraft aus den Kiezen saugen. Der geplante Bau einer weiteren Shopping-Mall an der Revaler Straße könnte den großflächigen Ladenleerstand auf beiden Seiten der Spree verschlimmern. Im Gebiet von Boxion stehen schon jetzt 20 Prozent der Läden leer. „Die Einkaufscenter sind sicherlich hemmend für die Reaktivierung des Einzelhandels“, meint Schulz. Er hofft, dass durch die Ladenprojekte eine Diskussion um den Leerstand in Gang kommt, an der sich auch die Eigentümer beteiligen. Denn die sind nicht nur Opfer, sondern auch Verursacher der Misere.

Die Mietvorstellungen für Ladenräume sind oftmals astronomisch. „Wir versuchen denen klar zu machen, dass dort nie wieder ein normales Gewerbe entstehen wird“, sagt Carmen Reiz. Mittlerweile bekommt sie Angebote von Vermietern, achtet aber darauf, die Mieten möglichst gering zu halten. Auch Urban Dialogues machten bei ihrer „Ladenkette“ Bekanntschaft mit uneinsichtigen Vermietern. Als „soziale Makler“ versuchten sie, leere Läden zu günstigen Konditionen an interessierte Kulturschaffende zu vermitteln. Gerade Alteigentümer mit abbezahlten Häusern würden lieber jahrelang auf zahlungskräftige Wunschkandidaten warten und die Läden leer stehen lassen, erzählt Sibille Kraut-Eppich von Urban Dialogues. „Wenn da kein soziales Verantwortungsgefühl ist, dann ist das halt so.“

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