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Drei Leben in Bildern

Drei Fotografinnen, drei Generationen, eine Familie. Eine deutsch-jüdisch-israelische Geschichte des Sehens

Es gibt viele Möglichkeiten, die Welt zu sehen: Mit Liebe oder Verwunderung, aus der Nähe oder aus der Distanz. In Marianne Karmons Familiengeschichte tauchen alle Facetten des Sehens auf. Ihre Mutter und ihre Tochter waren Fotografinnen, sie, eigentlich Kartografin, fotografiert ebenfalls. Zusammen spiegelt sich an den drei Frauen die Ästhetik des Augenblicks eines ganzen Jahrhunderts.

Marianne Karmon ist die Tochter der 1893 in Berlin geborenen Annie Lipschitz. Die lernte von 1910 bis 1912 an der Lette-Schule Fotografin. Damals ein Frauenberuf. Lipschitz wurde vor allem für ihre Porträts bekannt. Weichgezeichnet, engelsgleich, manieriert wirken die Frauen darauf, ganz spätromantischer Tradition verpflichtet. Lipschitz liebte es, ihr Gegenüber schön zu sehen. Und so bildete sie es auch ab. Es passte zu ihr. „Puppchen“ war ihr Spitzname.

Sie war 27 Jahre alt, als ein Lebemann, Schmoller, über den Weg lief. „Schön, charmant, rücksichtslos Frauen gegenüber“, sagt Marianne Karmon, die Tochter. Als Direktor einer Baufirma hatte er eine Frau zum Repräsentieren gebraucht. Puppchen war die Richtige. Zumindest eine Zeit lang. Sie sah die Dinge durch ihre rosarote Brille, bis zur Scheidung 1924. „Auch Faschismus und Hitler ignorierte sie, obwohl Jüdin, auf diese Weise“, erzählt die Tochter. Sie habe Glück gehabt, dass sie 1939 ihren zweiten Mann, einen reichen Juden, traf, mit dem sie noch 1940 in die USA emigrierte. Danach habe Lipschitz aufgehört zu fotografieren. Nur Retouche-Aufträge habe sie bis ins hohe Alter angenommen, erzählt Karmon, die 1921 geborene Tochter.

Deutlicher spiegelt sich die Dramatik der deutschen Geschichte in Karmons Leben. Da ist der abwesende Vater, dem sie ähnelt, und die Mutter, die alles ignoriert. Da sind allerhand Schulen, die erste katholisch, die zweite protestantisch, die dritte – nach 1935 – gezwungenermaßen jüdisch. Da sind Freunde, die sie auf kommunistischen Botengängen begleitet, und da ist die zionistische Jugendorganisation. Vor allem lernt Karmon, auf die Details zu achten, denn die Unterschiede zwischen den verschienen Welten sind nicht so groß. Sechs Wochen vor Kriegsausbruch emigriert sie nach Schweden. Ein Jahr Landarbeit, bevor sie nach Palästina geht, so die Idee. Der Krieg macht die Pläne zunichte. Zehn Jahre lebt sie in Schweden, arbeitet als Magd, Dienstmädchen, Gouvernante und in einer Bildagentur. 1946 kommt ihre Tochter Manja zur Welt. 1949 reist sie nach Israel aus. Zuerst lebt sie im Kibbuz. In den 50er-Jahren macht sie eine Ausbildung zur Kartografin in Israel, der Schweiz und Holland. Verheiratet in zweiter Ehe mit einem Geografieprofessor, war sie später oft in Europa, Afrika, Australien, Singapur. „Nur Indien und China fehlen bis heute.“

Bereits 1960 beginnt sie, sich für Deutschland zu interessieren. Sie hat keine Familienmitglieder im Holocaust verloren. Ein zweites Schlüsselerlebnis: Als sie von Sassnitz aus nach Schweden ausreiste, wurde ihr das Bargeld, fünf Mark, von einem Beamten abgenommen. Kurz bevor das Schiff ablegte, kam der Mann auf sie zu und steckte ihr zwei Bücher entgegen. „Ich habe sie von Ihrem Geld gekauft“, habe er gesagt, „damit sie wissen, dass nicht alle so denken, wie man hier denken soll.“ Die Bücher sind ihr nicht so wichtig, wohl aber die verzeihende Geste. Das hat sich in Israel rumgesprochen. „Ach, ihr redet mit Deutschen.“ Gern schickte man Besucher bei ihr vorbei. Als 1979 die Israelisch-Deutsche Gesellschaft in Jerusalem gegründet wird, geht sie in den Vorstand und ist es bis heute.

Auf ihren vielen Reisen hat sie angefangen, intensiv zu fotografieren. Nur intuitiv verstand sie, dass sie die Dokumentaristin in ihrer Familie ist. Gern zeigt sie die Veränderungen an Orten, die sie mehrfach besuchte. Ihre Fotos von Jerusalem verdeutlichen es. Die heutige Situation macht Karmon traurig. „Beide Seiten, die israelische und die arabische, sind von ihren religiösen Ideen besessen. Sie predigen Macht und Hass.“ Auf Schritt und Tritt müsse man in Jerusalem aufpassen. Jeder Weg in die Stadt werde genau geplant, sofern er unumgänglich ist. Wie damals in Berlin gilt es nun in Jerusalem, auf Details zu achten. Aus Kontemplation wird Wachsamkeit. Selbst beim Betrachten der Fotos entdeckt sie plötzlich eine versteckte Überwachungskamera über einem Gemüseladen.

Der größte Schmerz in Karmons Leben: der Tod ihrer Tochter Manja. Sie hatte Fotografie studiert an der Folkwang Schule in Essen und so die Trilogie der Familientradition vervollständigt. In ihren Bildern spiegelt sich die Entwicklung der Fotografie und der Zeit. Aufbruch der Siebzigerjahre, die Hippie-Leidenschaften, Fotorealismus à la Diane Arbus und Hochglanzästhetik, wie sie in Geo und Merian vorkommen – sie konnte es festhalten im Bild. Nicht so im Leben. Vor fünf Jahren starb sie an Krebs. WALTRAUD SCHWAB

Beim Vortrag „3 Frauen – 3 Generationen – eine jüdisch-deutsch-israelische Geschichte“ stellt Marianne Karmon morgen (7. 11.) Fotoarbeiten von sich, ihrer Mutter und ihrer Tochter vor. 19 Uhr, Lette-Verein, Viktoria-Luise-Platz 6

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